Perspektiven der Demokratie

Von Published On: 19. November 2017Kategorien: Allgemein

acTVism: Was verstehen Sie unter dem Begriff “Demokratie”?

 

Yanis Varoufakis: Demokratie ist ein Prozess. Es ist der beste Prozess den wir haben, um sicherzustellen, dass Macht nicht zur Unterwerfung anderer und dazu genutzt wird, eine Gesellschaft zu schaffen, in der in Wirklichkeit niemand, nicht einmal die Mächtigen, leben wollen würden. Demokratie ist ein unvollkommenes Regierungssystem, das nie ein für allemal festgelegt ist. Sie befindet sich ständig im Fluss, ist immer unfertig; sie muss wieder und wieder in Frage gestellt werden und ist letztlich ein sehr empfindliches Gewächs, das leicht zertrampelt werden kann.

 

acTVism: Wie praktiziert die Bewegung Diem25 Demokratie?

 

Yanis Varoufakis: Wir haben lang und hart daran gearbeitet, sicherzustellen, dass wir Demokratie nicht nur predigen, sondern auch selbst praktizieren, denn Demokratie beginnt zu Hause. Wir kämpfen – und es ist ein Kampf – um die Etablierung einer Kombination horizontaler und vertikaler Aspekte. Horizontalität bedeutet, dass jeder, der Diem beigetreten ist, eine Organisation – wir nennen das ein DSC, ein Diem-Spontan-Kollektiv – gründen kann, solange er unser Manifest und unsere Prinzipien vertritt. Man tut das in der eigenen Region und macht es einfach: Man engagiert sich in Aktivismus, Kritik und politischer Organisation, in Debatten unter Kollegen, die unsere gemeinsamen Prinzipien vorantreiben und all das ohne die Erlaubnis irgendeiner zentralen Autorität innerhalb von Diem. All diese spontanen Kollektive tragen zur Politik, zur Konzeption von Diem25, zu unseren Kampagnen bei. Gleichzeitig haben wir auch Vertikalität; wir haben ein Koordinationskollektiv, eine Art zentrales Koordinationskomitee, wo die Dinge zusammenlaufen, weil jetzt, wo wir Hunderte von Organisationen und Zehntausende von Mitgliedern haben, diese große Maschinerie ein wenig koordiniert werden muss. Die Balance zwischen Horizontalität und Vertikalität ist immer unfertig, aber wie gesagt funktioniert die Demokratie für uns. Es gibt kein großes, perfektes demokratisches Modell; es muss im Rahmen unserer Bewegung ständig neu geschaffen werden.

 

acTVism: Was sagen Sie zu den bevorstehenden Wahlen in Deutschland?

 

Yanis Varoufakis: Angesichts der Gegebenheiten und des völligen Vertrauensverlustes gegenüber fast allen Parteien – Frau Merkel hat ihre eigene Glaubwürdigkeit innerhalb der CDU eingebüßt, die SPD genießt nur noch unter ihren treuen Unterstützern Vertrauen, die Grünen sind kein Faktor, sie sind in sehr hohem Maß vom Ordo-Liberalismus kooptiert worden, die Linke ist gespalten – angesichts dieses traurigen Bildes denke ich, dass ein Parlament ohne klare Mehrheiten das Beste ist, auf das wir hoffen können. Das schlimmste Ergebnis wäre das, was ich für sehr wahrscheinlich halte, eine Koalition zwischen Christdemokraten und Freidemokraten. Und das wäre ein Desaster, weil die Freidemokraten – trotz einiger guter Positionen, wie etwa im Hinblick auf Flüchtlinge und Grenzen – zugleich als Liberale oder Neoliberale absolut katastrophale Ansichten darüber haben, was in Europa und speziell in der Eurozone getan werden muss. Dr. Wolfgang Schäuble wird in der FDP einen großartigen Verbündeten haben. Der Kampf gegen diese Koalition zwischen Christdemokraten und der FDP sollte im Augenblick das Anliegen aller progressiven Kräfte sein.

 

acTVism: Ist die Europäische Union demokratisch?

 

Yanis Varoufakis: Die Europäische Union wurde mit Absicht als demokratiefreie Zone konzipiert. Genau wie die OPEC, die Organisation der Erdölexportierenden Staaten, als Kartell konzipiert war. Die Europäische Union hieß ja zuerst Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, ganz ähnlich wie bei der OPEC. Sie war ein Kartell. Sie war ein ökonomisches und natürlich auch ein politisches und kulturelles Projekt, aber letztlich ein Kartell. Die Bürokratie in Brüssel wurde als die Bürokratie eines Kartells installiert. Sie sollte dafür sorgen, dass es keinen demos geben würde, der irgendeine Rolle bei den Entscheidungen spielt. Natürlich musste es ein hohes Maß an Kommunikation und an dem geben, was man früher mit dem heute unbeliebten Begriff Propaganda bezeichnete und letztere nahm die Form einer demokratischen Hülse an, hinter der sich dieses Kartell verbarg. So haben wir ein Europäisches Parlament, obwohl es gar kein echtes Parlament ist, weil dort gar nicht das passiert, was man universell als Gesetzgebung versteht. Am Ende werden alle Entscheidungen hinter verschlossenen Türen und ohne jede Transparenz und Rechenschaftspflicht getroffen. Wenn also Leute sagen, es gebe in Brüssel und der EU ein demokratisches Defizit, sage ich ihnen: Nein, das ist analytisch sehr ungenau. Es gibt hier überhaupt keine Demokratie. Was ist unsere Aufgabe? Wir müssen diesem Kartell entgegentreten und es gnadenlos angreifen, um es zu demokratisieren. Denken wir einmal zurück an das 19. Jahrhundert. Der Kapitalismus hatte immer zum Ziel, die Demokratie ausschließen. Selbst das erste Parlament, das britische Unterhaus verfolgte den Zweck, den demos fernzuhalten. Aber demokratische Bewegungen stürmen die Festungen der Herren, also müssen wir die Festungen in Brüssel stürmen.

 

acTVism: Behandelt die Europäische Union ihre Mitglieder gleich?

 

Yanis Varoufakis: Lassen Sie mich diese Frage anhand eines tatsächlichen Falls beantworten, nämlich anhand meiner Diskussionen mit Wolfgang Schäuble. Irgendwann erwähnte ich ihm gegenüber die Privatisierung von vierzehn regionalen Flughäfen in Griechenland, eine Privatisierung, die die Troika der Kreditgeber und er selbst gegenüber uns mit aller Härte verfochten hatte und die nach meinem Rücktritt auch durchgeführt wurde. Sie alle wurden schließlich für ein Handgeld von der Fraport AG, einer deutschen Gesellschaft, die ironischerweise mehrheitlich in Staatsbesitz ist, gekauft und ich fragte ihn: Wolfgang, würden Sie je zustimmen, dass in Deutschland all diese wichtigen Flughäfen privatisiert und an ein einziges Unternehmen verkauft werden, ohne dass die Regional- oder Bundesregierung Anteile behält? Mit anderen Worten, nein zum Wettbewerb sagt? Denn wenn man alle an nur ein Unternehmen verkauft, schafft man doch ein Monopol! Würden Sie dem in Deutschland jemals zustimmen? Er sagte: Nein, natürlich nicht! Worauf ich entgegnete: Warum zwingen Sie dann uns dazu? Seine Antwort war, vielleicht nicht in diesen Worten, aber sinngemäß: Sie können nicht erwarten, dass für Griechenland und Deutschland dieselben Regeln gelten. Ihr Land ist eine Schuldenkolonie.

 

acTVism: Wird bei der EU in Handelsfragen mit zweierlei Maß gemessen?

 

Yanis Varoufakis: Die deutsche Regierung, besonders Dr. Wolfgang Schäuble, redete wieder und wieder über die Regeln und darüber, wie wichtig sie seien. Und natürlich bestehen sie theoretisch tatsächlich darauf, dass jeder sich an die Regeln halten muss. Aber wie sich herausstellt, halten sie selbst sich nicht daran. Nehmen wir etwa die verschiedenen Abkommen. Wenn Griechenland oder Portugal Abkommen brechen, werden sie dafür an den Pranger gestellt. Aber es gibt einige entscheidende wichtige Abkommen mit Griechenland, die von der anderen Seite verletzt wurden. So gab es etwa ein Abkommen, nach dem die Profite der Europäischen Zentralbank aus griechischen Staatsanleihen an Griechenland zurückgegeben werden sollten. Das ist aber nicht passiert. Stattdessen hat Dr. Wolfgang Schäuble einen Großteil davon für sich beansprucht und es entgegen dem expliziten Abkommen auf europäischer Ebene seinem Haushalt zukommen lassen. Hier noch ein weiteres Beispiel für gebrochene Regeln: Laut den Regeln der EU zum Ausgleich von zu hohen Defiziten oder Überschüssen sollte ein Land bestraft werden, wenn es ein zu hohes Haushaltsdefizit hat, aber es sollte auch bestraft werden, wenn es einen zu hohen Handelsüberschuss hat. Alles über sechs Prozent des BNP sollte hier sofort eine Strafe nach sich ziehen. Deutschland jedoch hat diese Regel mit einem Handelsüberschuss von mehr als neuneinhalb Prozent, also nicht sechs, sondern neuneinhalb Prozent verletzt. Und was ist mit der Regel passiert, nach welcher es dann durch die EU bestraft werden sollte? Sie wurde stillschweigend vergessen. Aber was passiert, wenn Regeln nur für die Schwachen gelten? Dann bekommt man eine Autokratie, wie wir sie im 19. Jahrhundert hatten; damals nannte man das Kanonenbootdiplomatie. Das ist es, was wir heute haben.

 

acTVism: Wie sehen Sie die Zukunft der Demokratie in Europa?

 

Yanis Varoufakis: Ich möchte mich hier nicht in Spekulationen ergehen. Unsere Aufgabe als Aktivisten, als Bürger, als Politiker, als Mitglieder von Diem25 ist nicht, Vorhersagen zu machen, sondern zu handeln. Wir haben eine moralische Verantwortung gegenüber uns selbst und nur ein kurzes Leben, das wir daher genießen sollten, indem wir versuchen, diese Welt zu verändern, statt uns an sie anzupassen. Und das bedeutet weder Pessimismus noch Optimismus, aber große Hoffnung in die Fähigkeit der Menschheit, die Kontrolle über ihr Schicksal Kräften zu entreißen, die sowohl idiotisch als auch autoritär sind.

 

Transkript des Interviews: <http://www.actvism.org/wp-content/uploads/2017/09/170923_Public_Transcript_Varoufakis_Democracy-.pdf>

 

Perspektiven der Demokratie: Herausforderungen und Potentiale, 7 Videos: Das Vertrauen in die Politik bröckelt und einfache Lösungen gewinnen an Zulauf. Der Einfluss von Konzernen auf die Gesetzgebung und die soziale Ungleichheit wachsen. Dazu stehen uns mit zukünftigen Entwicklungen, wie der Digitalisierung, große Veränderungen bevor. acTVism Munich und Mehr Demokratie e.V. haben daher sechs nationale und internationale Expert/innen zur Interviewserie „Perspektiven der Demokratie: Herausforderungen und Potenziale“ eingeladen. <https://www.youtube.com/playlist?list=PLRLt57BRPAiLQXmkNlD7rINt132dXadT6>

 

Dieser Text wurde zuerst am 23.9.2017 auf www.activsm.org unter der URL <http://www.actvism.org/politics/yanis-varoufakis-demokratie/> veröffentlicht. Lizenz:  acTVism Munich e.V.

Perspektiven der Demokratie

Von Published On: 19. November 2017Kategorien: Allgemein

acTVism: Was verstehen Sie unter dem Begriff “Demokratie”?

 

Yanis Varoufakis: Demokratie ist ein Prozess. Es ist der beste Prozess den wir haben, um sicherzustellen, dass Macht nicht zur Unterwerfung anderer und dazu genutzt wird, eine Gesellschaft zu schaffen, in der in Wirklichkeit niemand, nicht einmal die Mächtigen, leben wollen würden. Demokratie ist ein unvollkommenes Regierungssystem, das nie ein für allemal festgelegt ist. Sie befindet sich ständig im Fluss, ist immer unfertig; sie muss wieder und wieder in Frage gestellt werden und ist letztlich ein sehr empfindliches Gewächs, das leicht zertrampelt werden kann.

 

acTVism: Wie praktiziert die Bewegung Diem25 Demokratie?

 

Yanis Varoufakis: Wir haben lang und hart daran gearbeitet, sicherzustellen, dass wir Demokratie nicht nur predigen, sondern auch selbst praktizieren, denn Demokratie beginnt zu Hause. Wir kämpfen – und es ist ein Kampf – um die Etablierung einer Kombination horizontaler und vertikaler Aspekte. Horizontalität bedeutet, dass jeder, der Diem beigetreten ist, eine Organisation – wir nennen das ein DSC, ein Diem-Spontan-Kollektiv – gründen kann, solange er unser Manifest und unsere Prinzipien vertritt. Man tut das in der eigenen Region und macht es einfach: Man engagiert sich in Aktivismus, Kritik und politischer Organisation, in Debatten unter Kollegen, die unsere gemeinsamen Prinzipien vorantreiben und all das ohne die Erlaubnis irgendeiner zentralen Autorität innerhalb von Diem. All diese spontanen Kollektive tragen zur Politik, zur Konzeption von Diem25, zu unseren Kampagnen bei. Gleichzeitig haben wir auch Vertikalität; wir haben ein Koordinationskollektiv, eine Art zentrales Koordinationskomitee, wo die Dinge zusammenlaufen, weil jetzt, wo wir Hunderte von Organisationen und Zehntausende von Mitgliedern haben, diese große Maschinerie ein wenig koordiniert werden muss. Die Balance zwischen Horizontalität und Vertikalität ist immer unfertig, aber wie gesagt funktioniert die Demokratie für uns. Es gibt kein großes, perfektes demokratisches Modell; es muss im Rahmen unserer Bewegung ständig neu geschaffen werden.

 

acTVism: Was sagen Sie zu den bevorstehenden Wahlen in Deutschland?

 

Yanis Varoufakis: Angesichts der Gegebenheiten und des völligen Vertrauensverlustes gegenüber fast allen Parteien – Frau Merkel hat ihre eigene Glaubwürdigkeit innerhalb der CDU eingebüßt, die SPD genießt nur noch unter ihren treuen Unterstützern Vertrauen, die Grünen sind kein Faktor, sie sind in sehr hohem Maß vom Ordo-Liberalismus kooptiert worden, die Linke ist gespalten – angesichts dieses traurigen Bildes denke ich, dass ein Parlament ohne klare Mehrheiten das Beste ist, auf das wir hoffen können. Das schlimmste Ergebnis wäre das, was ich für sehr wahrscheinlich halte, eine Koalition zwischen Christdemokraten und Freidemokraten. Und das wäre ein Desaster, weil die Freidemokraten – trotz einiger guter Positionen, wie etwa im Hinblick auf Flüchtlinge und Grenzen – zugleich als Liberale oder Neoliberale absolut katastrophale Ansichten darüber haben, was in Europa und speziell in der Eurozone getan werden muss. Dr. Wolfgang Schäuble wird in der FDP einen großartigen Verbündeten haben. Der Kampf gegen diese Koalition zwischen Christdemokraten und der FDP sollte im Augenblick das Anliegen aller progressiven Kräfte sein.

 

acTVism: Ist die Europäische Union demokratisch?

 

Yanis Varoufakis: Die Europäische Union wurde mit Absicht als demokratiefreie Zone konzipiert. Genau wie die OPEC, die Organisation der Erdölexportierenden Staaten, als Kartell konzipiert war. Die Europäische Union hieß ja zuerst Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, ganz ähnlich wie bei der OPEC. Sie war ein Kartell. Sie war ein ökonomisches und natürlich auch ein politisches und kulturelles Projekt, aber letztlich ein Kartell. Die Bürokratie in Brüssel wurde als die Bürokratie eines Kartells installiert. Sie sollte dafür sorgen, dass es keinen demos geben würde, der irgendeine Rolle bei den Entscheidungen spielt. Natürlich musste es ein hohes Maß an Kommunikation und an dem geben, was man früher mit dem heute unbeliebten Begriff Propaganda bezeichnete und letztere nahm die Form einer demokratischen Hülse an, hinter der sich dieses Kartell verbarg. So haben wir ein Europäisches Parlament, obwohl es gar kein echtes Parlament ist, weil dort gar nicht das passiert, was man universell als Gesetzgebung versteht. Am Ende werden alle Entscheidungen hinter verschlossenen Türen und ohne jede Transparenz und Rechenschaftspflicht getroffen. Wenn also Leute sagen, es gebe in Brüssel und der EU ein demokratisches Defizit, sage ich ihnen: Nein, das ist analytisch sehr ungenau. Es gibt hier überhaupt keine Demokratie. Was ist unsere Aufgabe? Wir müssen diesem Kartell entgegentreten und es gnadenlos angreifen, um es zu demokratisieren. Denken wir einmal zurück an das 19. Jahrhundert. Der Kapitalismus hatte immer zum Ziel, die Demokratie ausschließen. Selbst das erste Parlament, das britische Unterhaus verfolgte den Zweck, den demos fernzuhalten. Aber demokratische Bewegungen stürmen die Festungen der Herren, also müssen wir die Festungen in Brüssel stürmen.

 

acTVism: Behandelt die Europäische Union ihre Mitglieder gleich?

 

Yanis Varoufakis: Lassen Sie mich diese Frage anhand eines tatsächlichen Falls beantworten, nämlich anhand meiner Diskussionen mit Wolfgang Schäuble. Irgendwann erwähnte ich ihm gegenüber die Privatisierung von vierzehn regionalen Flughäfen in Griechenland, eine Privatisierung, die die Troika der Kreditgeber und er selbst gegenüber uns mit aller Härte verfochten hatte und die nach meinem Rücktritt auch durchgeführt wurde. Sie alle wurden schließlich für ein Handgeld von der Fraport AG, einer deutschen Gesellschaft, die ironischerweise mehrheitlich in Staatsbesitz ist, gekauft und ich fragte ihn: Wolfgang, würden Sie je zustimmen, dass in Deutschland all diese wichtigen Flughäfen privatisiert und an ein einziges Unternehmen verkauft werden, ohne dass die Regional- oder Bundesregierung Anteile behält? Mit anderen Worten, nein zum Wettbewerb sagt? Denn wenn man alle an nur ein Unternehmen verkauft, schafft man doch ein Monopol! Würden Sie dem in Deutschland jemals zustimmen? Er sagte: Nein, natürlich nicht! Worauf ich entgegnete: Warum zwingen Sie dann uns dazu? Seine Antwort war, vielleicht nicht in diesen Worten, aber sinngemäß: Sie können nicht erwarten, dass für Griechenland und Deutschland dieselben Regeln gelten. Ihr Land ist eine Schuldenkolonie.

 

acTVism: Wird bei der EU in Handelsfragen mit zweierlei Maß gemessen?

 

Yanis Varoufakis: Die deutsche Regierung, besonders Dr. Wolfgang Schäuble, redete wieder und wieder über die Regeln und darüber, wie wichtig sie seien. Und natürlich bestehen sie theoretisch tatsächlich darauf, dass jeder sich an die Regeln halten muss. Aber wie sich herausstellt, halten sie selbst sich nicht daran. Nehmen wir etwa die verschiedenen Abkommen. Wenn Griechenland oder Portugal Abkommen brechen, werden sie dafür an den Pranger gestellt. Aber es gibt einige entscheidende wichtige Abkommen mit Griechenland, die von der anderen Seite verletzt wurden. So gab es etwa ein Abkommen, nach dem die Profite der Europäischen Zentralbank aus griechischen Staatsanleihen an Griechenland zurückgegeben werden sollten. Das ist aber nicht passiert. Stattdessen hat Dr. Wolfgang Schäuble einen Großteil davon für sich beansprucht und es entgegen dem expliziten Abkommen auf europäischer Ebene seinem Haushalt zukommen lassen. Hier noch ein weiteres Beispiel für gebrochene Regeln: Laut den Regeln der EU zum Ausgleich von zu hohen Defiziten oder Überschüssen sollte ein Land bestraft werden, wenn es ein zu hohes Haushaltsdefizit hat, aber es sollte auch bestraft werden, wenn es einen zu hohen Handelsüberschuss hat. Alles über sechs Prozent des BNP sollte hier sofort eine Strafe nach sich ziehen. Deutschland jedoch hat diese Regel mit einem Handelsüberschuss von mehr als neuneinhalb Prozent, also nicht sechs, sondern neuneinhalb Prozent verletzt. Und was ist mit der Regel passiert, nach welcher es dann durch die EU bestraft werden sollte? Sie wurde stillschweigend vergessen. Aber was passiert, wenn Regeln nur für die Schwachen gelten? Dann bekommt man eine Autokratie, wie wir sie im 19. Jahrhundert hatten; damals nannte man das Kanonenbootdiplomatie. Das ist es, was wir heute haben.

 

acTVism: Wie sehen Sie die Zukunft der Demokratie in Europa?

 

Yanis Varoufakis: Ich möchte mich hier nicht in Spekulationen ergehen. Unsere Aufgabe als Aktivisten, als Bürger, als Politiker, als Mitglieder von Diem25 ist nicht, Vorhersagen zu machen, sondern zu handeln. Wir haben eine moralische Verantwortung gegenüber uns selbst und nur ein kurzes Leben, das wir daher genießen sollten, indem wir versuchen, diese Welt zu verändern, statt uns an sie anzupassen. Und das bedeutet weder Pessimismus noch Optimismus, aber große Hoffnung in die Fähigkeit der Menschheit, die Kontrolle über ihr Schicksal Kräften zu entreißen, die sowohl idiotisch als auch autoritär sind.

 

Transkript des Interviews: <http://www.actvism.org/wp-content/uploads/2017/09/170923_Public_Transcript_Varoufakis_Democracy-.pdf>

 

Perspektiven der Demokratie: Herausforderungen und Potentiale, 7 Videos: Das Vertrauen in die Politik bröckelt und einfache Lösungen gewinnen an Zulauf. Der Einfluss von Konzernen auf die Gesetzgebung und die soziale Ungleichheit wachsen. Dazu stehen uns mit zukünftigen Entwicklungen, wie der Digitalisierung, große Veränderungen bevor. acTVism Munich und Mehr Demokratie e.V. haben daher sechs nationale und internationale Expert/innen zur Interviewserie „Perspektiven der Demokratie: Herausforderungen und Potenziale“ eingeladen. <https://www.youtube.com/playlist?list=PLRLt57BRPAiLQXmkNlD7rINt132dXadT6>

 

Dieser Text wurde zuerst am 23.9.2017 auf www.activsm.org unter der URL <http://www.actvism.org/politics/yanis-varoufakis-demokratie/> veröffentlicht. Lizenz:  acTVism Munich e.V.