30 Jahre Deutsche Einheit:

Die gekaufte Revolution

Aus den Ruinen der DDR hätte etwas ganz Neues auferstehen können – stattdessen siegte das alte BRD-System auf ganzer Linie. Exklusivabdruck aus „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“.

Von Published On: 17. Dezember 2019Kategorien: Innenpolitik

Dieser Text wurde zuerst am 09.11.2019 auf www.rubikon.news unter der URL https://www.rubikon.news/artikel/die-gekaufte-revolution-2 veröffentlicht. Lizenz: © Daniela Dahn

Bild: Geldkoffer und Personen (Shutterstock), Köpfe: Kohl: KAS/ACDP 10-031 : 848 CC-BY-SA 3.0 DE, Merkel: Armin Linnartz, CC BY-SA 3.0 de

Die Geschichte des Endes der DDR, wie wir es aus Jubiläumsveranstaltungen und TV-Mehrteilern kennen, ist das Ergebnis lupenreiner Sieger-Geschichtsschreibung. Mythen und Legenden haben sich über die Jahrzehnte verfestigt. Etwa jene, die DDR-Bevölkerung habe sich „schon immer“ leidenschaftlich nach einem bedingungslosen Anschluss an die Bundesrepublik gesehnt. In Wahrheit wäre in den Wochen und Monaten der Wende sehr viel möglich gewesen – auch ein „Dritter Weg“, ein demokratischer Sozialismus mit rundumerneuerter Demokratie innerhalb der alten Grenzen der DDR. Die Geschichte der Wiedervereinigung ist die eigentlich traurige Geschichte sich immer weiter verengender Handlungsoptionen, verratener Träume und erstickter Aufbruchsimpulse. Was mit der Sehnsucht nach einem besseren Sozialismus begonnen hatte, mündete in devoten „Helmut“-Rufen und dem Ausverkauf der eroberten Teilrepublik an den kapitalistischen Westen.

Die Umstände der Einheit sind Schnee von gestern. Mit Folgen bis heute. Um die damaligen Abläufe haben sich vereinfachende Legenden gebildet, die das Verständnis nach wie vor belasten. Es herrscht ein konservatives Narrativ vor, wonach es für den gegangenen Weg keine Alternativen gab. Dieses einst von Margaret Thatcher geprägte Tina-Prinzip [there is no alternative. Anm. d. Red.] gehört zu den Glaubensbekenntnissen, die den Anforderungen an eine moderne, lebenswerte Welt am wenigsten gerecht werden. Schon weil wir weiterhin ständig an Scheidewegen stehen, sollte aus Gründen des nachholenden Dazulernens daran erinnert werden, welche Weichen damals falsch gestellt wurden.

Verfestigt hat sich ein wohl beabsichtigtes Bild, wonach gleich nach dem sogenannten Mauerfall die Massen zu schneller Einheit drängten, verbunden mit dem Wunsch nach bedingungsloser Übernahme der westlichen Ordnung. Derart seien die bedachtsam zögernden Bonner Politiker nur so zur Tempoeinheit getrieben worden. Doch schon zwei Tage nach Maueröffnung gab Kanzler Kohl vor der Bundespressekonferenz die Marschrichtung vor: „Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Deutschen die Einheit ihrer Nation wollen.“ Obwohl Ende November 1989 die meisten DDR-Bürger die Erfahrung hinter sich hatten, wie es ist, mit Begrüßungsgeld durch westliche Konsumtempel zu schreiten, entschieden sich 86 Prozent für „den Weg eines besseren, reformierten Sozialismus“, nur fünf Prozent wollten einen „kapitalistischen Weg“, neun Prozent einen „anderen Weg“ [1].

Rückblickend ist es eher erstaunlich, dass die Menschen der Minderheit von Oppositionellen, Theologen und Bürgerrechtlern mit ihren Angeboten einer grundlegenden Erneuerung für eine kurze Zeit die Regie überließen. Als der damalige Vorsitzende der Ost-CDU Lothar de Maizière zehn Tage nach Öffnung der Mauer der Bild am Sonntag ein Interview gab, konnte er sich sicher sein, mit seiner Meinung nicht allein zu stehen:

„Ich halte Sozialismus für eine der schönsten Visionen des menschlichen Denkens. (…) Wenn Sie glauben, dass die Forderung nach Demokratie zugleich die Forderung nach Abschaffung des Sozialismus beinhaltet, dann müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir unterschiedlicher Auffassung sind.“

Die Einheit sei nicht „Thema der Stunde“, sondern beträfe „Überlegungen, die vielleicht unsere Kinder und Enkel anstellen können“. Was weder de Maizière noch sonst jemand im Osten wusste: Drei Tage nach diesen Überlegungen legte das Direktoriumsmitglied der Bundesbank, Claus Köhler, auf einer internen Sitzung des Zentralbankrates ein Konzept für eine Währungsunion vor. Noch gab es Bedenken. Aber der keine Kosten scheuende Plan zum Aufkauf der Revolution war geboren.

Auf Seiten der als Revolutionäre Bezeichneten war die Zuversicht, endlich mitgestalten zu können, noch ungebrochen. Dass es wichtig war, den taumelnden Verhältnissen durch neue Gesetze Stabilität zu geben, war klar. Ich saß zu dieser Zeit in zwei Arbeitsgruppen, eine vom Schriftstellerverband, die ein neues Pressegesetz mit innerredaktioneller Mitbestimmung entwarf. Und eine von der ersten unabhängigen Untersuchungskommission der DDR, die sich nach den gewaltsamen Vorkommnissen im Oktober um ein bürgernahes Polizeigesetz kümmerte, wie es auch heute noch ein Fortschritt wäre.

Im Osten hoffte man noch, so könne Demokratie funktionieren. Wir gingen unverzüglich dazu über, den Augiasstall selbst auszumisten. Und ahnten nicht, dass finanzstarke Kräfte am Werk waren, die den Stall so schnell wie möglich mit allem Unrat kaufen wollten. Weil der Mist den Preis senkt und überdies bestens geeignet ist, ihn uns ein Leben lang vor die Nase zu halten. In seiner „Rede an die Deutschen in der DDR“ warnte der langjährige Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus:

„Während sonst Leute, die Geld haben, die Orte von Revolutionen fliehen, kann man hier, etwa im Palasthotel, wo ich wohne, die westlichen Gesichter studieren – die Aufkäufer sind da!“

Der Runde Tisch hatte Neuwahlen zur Volkskammer beschlossen und zugleich verlangt, dass sich die Westpolitiker aus dem Wahlkampf heraushalten mögen. Ich konnte im „Demokratischen Aufbruch“ beobachten, wie sich die Westler, wohlmeinend oder nicht, keinen Tag an diese Forderung hielten. Unsere improvisierten Büros wurden mit Spenden und Computern versorgt, die Westmedien boten rund um die Uhr Raum für Interviews und Berichte, Berater wichen uns nicht mehr von der Seite, und bei größeren Zusammenkünften gastierten und redeten huldvoll Spitzenpolitiker aus Bonn.

Die Dosis an besorgniserregenden Fakten zum finanziellen, moralischen und ökologischen Zustand der DDR, die die Medien verbreiteten, erhöhte sich von Stunde zu Stunde. Bankrottgerüchte waren aus politischen Gründen oft heftig überzogen, wie die Deutsche Bank später feststellte. Dazu gehörte auch der sagenumwobene Schürer-Bericht, der die DDR-Auslandsschulden aufgelistet, aber die Guthaben, die weit über die Hälfte davon abdeckten, aus taktischen Gründen weggelassen hatte. So war es für alle schwer, sich ein fundiertes Bild zu machen. Die Rolle von Fake News und Medien als Stimmungsmacher in diesen Wochen ist noch nicht untersucht.

Bei einem Besuch am 20. November in Berlin knüpfte Kanzleramtsminister Seiters Bedingungen an eine mögliche Finanzhilfe der Bundesrepublik, die darauf hinauslief: erst Abschaffung des Sozialismus, dann Geld. Drei Tage später schrieb Klaus Hartung in der taz:

„Solch eine Politik zerstört jenen zeitlichen Spielraum, den die Massen von Leipzig und die vielen oppositionellen Gruppen in allen Lagern unbedingt brauchen, um überhaupt das praktizieren zu können, was Selbstbestimmung heißt.“

Unheilbares Deutschland

Viele Wissenschaftler, Theologen, Juristen und Künstler aus dem Westen hatten seit Ende 1989 gewarnt. „Für Euer Land, für unser Land“, hieß am 2. Dezember eine Erklärung von drei Dutzend Autoritäten, deren Stimme inzwischen spürbar fehlt. Inge Aicher-Scholl, Heinrich Albertz, Annemarie Böll, Karl Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer, Margarethe Mitscherlich, Ossip K. Flechtheim, Luise Rinser, Dorothee Sölle und andere schrieben:

„Nicht nur Euer Land, Ost und West stecken in einer tiefen Krise. In dieser Situation werden bewusst nationalistische Gefühle angeheizt. Bundeskanzler Kohl hat mit seinem ,Zehn-Punkte-Plan‘ die ,Wiedervereinigung‘ zu westdeutschen Bedingungen zum Programm erhoben. (…) Damit würde nicht nur Euer Versuch, einen Weg sozialistischer Demokratie aus der Krise Eurer Gesellschaft zu finden, verschüttet. Auch das reformerische Bemühen der sozialen Bewegungen in unserm Lande würde einen schweren Rückschlag erleiden.“

Ein Mitunterzeichner, der österreichische Futurologe Robert Jungk, flehte geradezu:

„Lassen Sie sich um Gottes willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen unvermeidlich schwere, nicht wiedergutzumachende Krisen ins Haus.“

Inzwischen sind diese Krisen unsere ständigen Begleiter. Vom Keller bis unters Dach. Was anfangs den Euphemismus „Revolution“ verdiente, war der ansatzweise Wandel zu einer Demokratie, die den Bürgern mehr Möglichkeiten des Mitdenkens und Mitentwerfens bot als jede andere bisher praktizierte Regierungsform.

„Das könnte ein Modell für die Welt werden“, schwärmte Jungk. 30 Jahre nach dem Niedergang des Realsozialismus steht die Welt ohne jedes durchsetzungsfähige Modell da. Aber welches Land hört schon auf seine Intellektuellen. Von ihnen veröffentlichte im Dezember 89 die Frankfurter Rundschau die „Erklärung der Hundert: Wider Vereinigung“. Es werde unverhohlen ein Export der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik nach Osten angepeilt. Diese Großmannspolitik werde „die Wiedervereinigung in einem Scherbenhaufen enden lassen und den Aufbau des Europäischen Hauses gefährden“. Ein Scherbenhaufen als Humus für die AfD.

Auch die Vorhersage, dass Europa durch deutsche Großmannspolitik bedroht werde, war weitsichtig und zeigt zugleich: Man konnte das alles absehen. Die eingetretenen Entwicklungen hatten nichts mit einer vom Himmel gefallenen Globalisierung zu tun. Der neoliberale Raubmensch-Kapitalismus war nur insofern ein Naturereignis, als nicht zu bestreiten ist, dass auch Aasgeier natürliche Wesen sind.

Kohls Ausschüttung des eiligen Geistes hatte auch die Leipziger Montagsdemonstranten in rivalisierende Gruppen polarisiert.

Gegen Tausende Träger schwarz-rot-goldener Fahnen – wo immer die herkamen – rückte ein großer Trupp Studenten an mit Losungen wie: „Reinigen statt einigen“, „Kommt die DM zu früh, kommt die Vernunft zu spät“. Die meist etwas Älteren mit den Fahnen skandierten daraufhin: „Rote aus der Demo raus!“ Die Jungen wehrten sich mit: „Nazis raus!“ Es kam zu Tumulten. Plötzlich regnete es vom Himmel 100-DM-Scheine. Mit dem umseitigen Aufdruck: Schon eingekauft? Für einen Moment verschlug es beiden Seiten die Sprache. Wird die Demo als Erstes gekauft? Wer bei ARD und ZDF in der ersten Reihe saß, bekam künftig fast nur noch die nationale Flagge zu sehen und Demonstranten, die eine schnelle Einheit forderten, als das nachweislich noch nicht Mehrheitsmeinung war.

Am heftigsten wurde die DDR in dieser Zeit dadurch destabilisiert, dass täglich etwa 2.000 Menschen durch die offene Mauer das Land verließen. Der sowjetische Botschafter Kwizinskij sprach am 5. Dezember im Bundeskanzleramt vor. Die sowjetische Führung sei besorgt, dass die westlichen Massenmedien die Menschen in der DDR zur illegalen Ausreise aufstacheln.

Die Bundesregierung kam in dieser den Lebensnerv treffenden Frage dem Modrow-Kabinett keinen Millimeter entgegen. Euphorische Empfänge in den Aufnahmestellen, Begrüßungsgeld und bevorzugte Hilfe bei der Suche nach Wohnung und Arbeit waren garantiert und wurden öffentlichkeitswirksam propagiert. „Wir sind uns darüber im Klaren“, notierte Kohl-Berater Horst Teltschik in sein Tagebuch, dass erst „nach der Wahl Übersiedler so behandelt werden müssen wie Bundesbürger, die ihren Wohnort wechseln“ [2]. Kohl frohlockte im In- und Ausland, dass die DDR „die Lage nicht im Griff“ habe. Und auf dem Ku’damm demonstrierten 20.000 Westberliner unter dem Motto: Unheilbares Deutschland.

Wahlbeeinflussung und endgültiger Bruch mit dem Sozialismus

Bei seinem ersten großen Wahlkampfauftritt in Erfurt verkündete der führende Historiker unter tosendem Beifall ein achtes Weltwunder. Nach den Hängenden Gärten zu Babylon nun die Blühenden Landschaften in Kohlrabien. Auf der Montagsdemo in Leipzig wurde indessen ein Bürgerrechtler, der vor drohender Arbeitslosigkeit warnte, von Aufhören-Rufen unterbrochen. Eine Sprecherin, die Wuchermieten prophezeite, falls westdeutsche Eigentümer zurückkehren, wurde ausgebuht. Verteilt wurden massenhaft Flugblätter der bundesdeutschen Parteien. Diese haben für den vom Runden Tisch unerwünschten Wahlkampf in der DDR 7,5 Millionen DM ausgegeben, wie erst später bekannt wurde. Der Löwenanteil ging von der CDU an die neue Ostschwester und von der CSU an die rechtskonservative DSU.

Hatte sich der „Demokratische Aufbruch“ (DA) in seiner Anfangsphase noch gegen die Unterstellung verwahrt, „die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen“, so hat er im Laufe des Herbstes einen Rechtsruck vollzogen und es dem machtbewussten Kohl leicht gemacht, den zwielichtigen Vorsitzenden des DA, Wolfgang Schnur, für die „Allianz für Deutschland“ zu vereinnahmen. Bei dem im kleinsten Kreis von Kohl-Vertrauten in Westberlin gegründeten Wahlbündnis dieser drei ging es wohlgemerkt um Volkskammerwahlen der DDR – kann man sich mehr Wahlbeeinflussung vorstellen? Doch, kann man. Und daran zu erinnern ist nicht der Schnee von gestern, sondern betrifft das bis heute im Osten anhaltende Dilemma.

Die Stärke jener Allianz war schwer zu beurteilen, Umfragen sagten immer noch einen Erdrutschsieg der SPD voraus. Am 6. Februar traf sich Bundesbankpräsident Karl-Otto Pöhl (SPD) mit dem Staatsbankpräsidenten der DDR Kaminsky und der DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft und stimmte öffentlich deren Haltung zu, nach der eine schnelle Währungsunion eine völlig abwegige Idee sei. Luft hatte zudem klargemacht, dass ein so einschneidender Eingriff nur über einen Volksentscheid beschlossen werden dürfe. Schon um den Wählern die Tragweite eines solchen auf den ersten Blick verlockenden Angebotes bewusst zu machen.

Ohne Rücksicht auf die DDR-Regierung und den eigenen, damit desavouierten Bundesbankpräsidenten bot Kanzler Kohl am selben Tag eine baldige Währungsunion mit einem Umtauschverhältnis von 1:1 an. Der wie alle völlig überraschte SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel sprach sich aus guten Gründen dagegen aus. Die sowieso erregten DDR-Bürger waren nun elektrisiert.

Drei Tage später setzte Kohls engster Berater Horst Teltschik im Bundespresseamt noch einen drauf. Er sagte den nahen wirtschaftlichen Kollaps der DDR voraus, es zeichne sich ab, dass sie in wenigen Tagen völlig zahlungsunfähig sei und erhebliche Stabilitätshilfen benötige. Am selben Tag distanzierte sich der sachkundige Präsident des Bundesverbandes Deutscher Banken und Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Wolfgang Röller, auf einer eiligst einberufenen Pressekonferenz von dieser Behauptung und sprach von „durchsichtigen Bankrottgerüchten“. Doch dieses Dementi fand in den Medien kaum Beachtung, die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit war Aufmacher jeder Zeitung.

Teltschik erklärt seinem Tagebuch: „Wir hatten angesichts der wirtschaftlichen Situation in der DDR sowie der ständig steigenden Übersiedlerzahlen seit Tagen über einen solchen Schritt diskutiert“ (mit wem wohl, wenn nicht mal mit dem Bundesbankpräsidenten? D. D.). „Unsere Überlegung war: Wenn wir nicht wollen, dass sie zur D-Mark kommen, muss die D-Mark zu den Menschen gehen“ [3].

Diese Formulierung vom 6. Februar ist bemerkenswert. Heißt es doch bis heute, die Straße habe nach dem Geld geschrien, sodass die Politiker nicht anders konnten, als es rauszurücken. Es ist aber erwiesen, dass die Losung „Kommt die D-Mark nicht nach hier – gehen wir zu ihr!“ erstmalig am 12. Februar auf der Montagsdemo in Leipzig auftauchte. Also mindestens sechs Tage, nachdem die Idee im Kreis der Kohlvertrauten ersonnen, auf unergründlichen Wegen in Leipzig die Massen ergriff und zur materiellen Gewalt wurde. Nun war klar, wozwischen die DDR-Bürger in einigen Tagen die Wahl haben würden: die D-Mark 1:1 oder Kollaps. Zumal der Begriff „Zahlungsunfähigkeit“ ein völliges Novum war und große Irritation auslöste.

In Gesprächen auf der Straße oder in der Sparkasse fragten sich die Menschen, ob denn die Auszahlung der Löhne und Spareinlagen noch gesichert sei. In den darauffolgenden Tagen kam es zu einer fast flächendeckenden Abkehr von allerdings längst brüchig gewordenen Überzeugungen. Der einzige programmatische Unterschied der Ost-CDU zur großen Schwesterpartei blieb vorerst die kompromisslose Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Ansonsten vollzog Lothar de Maizière, nur drei Wochen nachdem er dies noch den Kindern und Enkeln überlassen wollte, den endgültigen Bruch mit dem Sozialismus.

Die SPD mit ihrer völlig berechtigten zögerlichen Haltung zu übereilter Einheit stürzte in der Volkskammerwahl vom 18. März ab – von noch unlängst prognostizierten 54 Prozent auf 21,9 Prozent. Sie hat sich davon jahrelang nicht erholt. Der Riesenvorsprung der CDU erklärte sich aus deren Erlösungsversprechen. Die Leute glaubten, das Kapital zu wählen und wählten die Kapitulation.

Quellen:

Die Quellen zu diesem Artikel finden Sie im Buch.


Das Buchcover des sehr lesenswerten Buches von Daniela Dahn „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit – eine Abrechnung“.

30 Jahre Deutsche Einheit:

Die gekaufte Revolution

Aus den Ruinen der DDR hätte etwas ganz Neues auferstehen können – stattdessen siegte das alte BRD-System auf ganzer Linie. Exklusivabdruck aus „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“.

Von Published On: 17. Dezember 2019Kategorien: Innenpolitik

Dieser Text wurde zuerst am 09.11.2019 auf www.rubikon.news unter der URL https://www.rubikon.news/artikel/die-gekaufte-revolution-2 veröffentlicht. Lizenz: © Daniela Dahn

Bild: Geldkoffer und Personen (Shutterstock), Köpfe: Kohl: KAS/ACDP 10-031 : 848 CC-BY-SA 3.0 DE, Merkel: Armin Linnartz, CC BY-SA 3.0 de

Die Geschichte des Endes der DDR, wie wir es aus Jubiläumsveranstaltungen und TV-Mehrteilern kennen, ist das Ergebnis lupenreiner Sieger-Geschichtsschreibung. Mythen und Legenden haben sich über die Jahrzehnte verfestigt. Etwa jene, die DDR-Bevölkerung habe sich „schon immer“ leidenschaftlich nach einem bedingungslosen Anschluss an die Bundesrepublik gesehnt. In Wahrheit wäre in den Wochen und Monaten der Wende sehr viel möglich gewesen – auch ein „Dritter Weg“, ein demokratischer Sozialismus mit rundumerneuerter Demokratie innerhalb der alten Grenzen der DDR. Die Geschichte der Wiedervereinigung ist die eigentlich traurige Geschichte sich immer weiter verengender Handlungsoptionen, verratener Träume und erstickter Aufbruchsimpulse. Was mit der Sehnsucht nach einem besseren Sozialismus begonnen hatte, mündete in devoten „Helmut“-Rufen und dem Ausverkauf der eroberten Teilrepublik an den kapitalistischen Westen.

Die Umstände der Einheit sind Schnee von gestern. Mit Folgen bis heute. Um die damaligen Abläufe haben sich vereinfachende Legenden gebildet, die das Verständnis nach wie vor belasten. Es herrscht ein konservatives Narrativ vor, wonach es für den gegangenen Weg keine Alternativen gab. Dieses einst von Margaret Thatcher geprägte Tina-Prinzip [there is no alternative. Anm. d. Red.] gehört zu den Glaubensbekenntnissen, die den Anforderungen an eine moderne, lebenswerte Welt am wenigsten gerecht werden. Schon weil wir weiterhin ständig an Scheidewegen stehen, sollte aus Gründen des nachholenden Dazulernens daran erinnert werden, welche Weichen damals falsch gestellt wurden.

Verfestigt hat sich ein wohl beabsichtigtes Bild, wonach gleich nach dem sogenannten Mauerfall die Massen zu schneller Einheit drängten, verbunden mit dem Wunsch nach bedingungsloser Übernahme der westlichen Ordnung. Derart seien die bedachtsam zögernden Bonner Politiker nur so zur Tempoeinheit getrieben worden. Doch schon zwei Tage nach Maueröffnung gab Kanzler Kohl vor der Bundespressekonferenz die Marschrichtung vor: „Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Deutschen die Einheit ihrer Nation wollen.“ Obwohl Ende November 1989 die meisten DDR-Bürger die Erfahrung hinter sich hatten, wie es ist, mit Begrüßungsgeld durch westliche Konsumtempel zu schreiten, entschieden sich 86 Prozent für „den Weg eines besseren, reformierten Sozialismus“, nur fünf Prozent wollten einen „kapitalistischen Weg“, neun Prozent einen „anderen Weg“ [1].

Rückblickend ist es eher erstaunlich, dass die Menschen der Minderheit von Oppositionellen, Theologen und Bürgerrechtlern mit ihren Angeboten einer grundlegenden Erneuerung für eine kurze Zeit die Regie überließen. Als der damalige Vorsitzende der Ost-CDU Lothar de Maizière zehn Tage nach Öffnung der Mauer der Bild am Sonntag ein Interview gab, konnte er sich sicher sein, mit seiner Meinung nicht allein zu stehen:

„Ich halte Sozialismus für eine der schönsten Visionen des menschlichen Denkens. (…) Wenn Sie glauben, dass die Forderung nach Demokratie zugleich die Forderung nach Abschaffung des Sozialismus beinhaltet, dann müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir unterschiedlicher Auffassung sind.“

Die Einheit sei nicht „Thema der Stunde“, sondern beträfe „Überlegungen, die vielleicht unsere Kinder und Enkel anstellen können“. Was weder de Maizière noch sonst jemand im Osten wusste: Drei Tage nach diesen Überlegungen legte das Direktoriumsmitglied der Bundesbank, Claus Köhler, auf einer internen Sitzung des Zentralbankrates ein Konzept für eine Währungsunion vor. Noch gab es Bedenken. Aber der keine Kosten scheuende Plan zum Aufkauf der Revolution war geboren.

Auf Seiten der als Revolutionäre Bezeichneten war die Zuversicht, endlich mitgestalten zu können, noch ungebrochen. Dass es wichtig war, den taumelnden Verhältnissen durch neue Gesetze Stabilität zu geben, war klar. Ich saß zu dieser Zeit in zwei Arbeitsgruppen, eine vom Schriftstellerverband, die ein neues Pressegesetz mit innerredaktioneller Mitbestimmung entwarf. Und eine von der ersten unabhängigen Untersuchungskommission der DDR, die sich nach den gewaltsamen Vorkommnissen im Oktober um ein bürgernahes Polizeigesetz kümmerte, wie es auch heute noch ein Fortschritt wäre.

Im Osten hoffte man noch, so könne Demokratie funktionieren. Wir gingen unverzüglich dazu über, den Augiasstall selbst auszumisten. Und ahnten nicht, dass finanzstarke Kräfte am Werk waren, die den Stall so schnell wie möglich mit allem Unrat kaufen wollten. Weil der Mist den Preis senkt und überdies bestens geeignet ist, ihn uns ein Leben lang vor die Nase zu halten. In seiner „Rede an die Deutschen in der DDR“ warnte der langjährige Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus:

„Während sonst Leute, die Geld haben, die Orte von Revolutionen fliehen, kann man hier, etwa im Palasthotel, wo ich wohne, die westlichen Gesichter studieren – die Aufkäufer sind da!“

Der Runde Tisch hatte Neuwahlen zur Volkskammer beschlossen und zugleich verlangt, dass sich die Westpolitiker aus dem Wahlkampf heraushalten mögen. Ich konnte im „Demokratischen Aufbruch“ beobachten, wie sich die Westler, wohlmeinend oder nicht, keinen Tag an diese Forderung hielten. Unsere improvisierten Büros wurden mit Spenden und Computern versorgt, die Westmedien boten rund um die Uhr Raum für Interviews und Berichte, Berater wichen uns nicht mehr von der Seite, und bei größeren Zusammenkünften gastierten und redeten huldvoll Spitzenpolitiker aus Bonn.

Die Dosis an besorgniserregenden Fakten zum finanziellen, moralischen und ökologischen Zustand der DDR, die die Medien verbreiteten, erhöhte sich von Stunde zu Stunde. Bankrottgerüchte waren aus politischen Gründen oft heftig überzogen, wie die Deutsche Bank später feststellte. Dazu gehörte auch der sagenumwobene Schürer-Bericht, der die DDR-Auslandsschulden aufgelistet, aber die Guthaben, die weit über die Hälfte davon abdeckten, aus taktischen Gründen weggelassen hatte. So war es für alle schwer, sich ein fundiertes Bild zu machen. Die Rolle von Fake News und Medien als Stimmungsmacher in diesen Wochen ist noch nicht untersucht.

Bei einem Besuch am 20. November in Berlin knüpfte Kanzleramtsminister Seiters Bedingungen an eine mögliche Finanzhilfe der Bundesrepublik, die darauf hinauslief: erst Abschaffung des Sozialismus, dann Geld. Drei Tage später schrieb Klaus Hartung in der taz:

„Solch eine Politik zerstört jenen zeitlichen Spielraum, den die Massen von Leipzig und die vielen oppositionellen Gruppen in allen Lagern unbedingt brauchen, um überhaupt das praktizieren zu können, was Selbstbestimmung heißt.“

Unheilbares Deutschland

Viele Wissenschaftler, Theologen, Juristen und Künstler aus dem Westen hatten seit Ende 1989 gewarnt. „Für Euer Land, für unser Land“, hieß am 2. Dezember eine Erklärung von drei Dutzend Autoritäten, deren Stimme inzwischen spürbar fehlt. Inge Aicher-Scholl, Heinrich Albertz, Annemarie Böll, Karl Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer, Margarethe Mitscherlich, Ossip K. Flechtheim, Luise Rinser, Dorothee Sölle und andere schrieben:

„Nicht nur Euer Land, Ost und West stecken in einer tiefen Krise. In dieser Situation werden bewusst nationalistische Gefühle angeheizt. Bundeskanzler Kohl hat mit seinem ,Zehn-Punkte-Plan‘ die ,Wiedervereinigung‘ zu westdeutschen Bedingungen zum Programm erhoben. (…) Damit würde nicht nur Euer Versuch, einen Weg sozialistischer Demokratie aus der Krise Eurer Gesellschaft zu finden, verschüttet. Auch das reformerische Bemühen der sozialen Bewegungen in unserm Lande würde einen schweren Rückschlag erleiden.“

Ein Mitunterzeichner, der österreichische Futurologe Robert Jungk, flehte geradezu:

„Lassen Sie sich um Gottes willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen unvermeidlich schwere, nicht wiedergutzumachende Krisen ins Haus.“

Inzwischen sind diese Krisen unsere ständigen Begleiter. Vom Keller bis unters Dach. Was anfangs den Euphemismus „Revolution“ verdiente, war der ansatzweise Wandel zu einer Demokratie, die den Bürgern mehr Möglichkeiten des Mitdenkens und Mitentwerfens bot als jede andere bisher praktizierte Regierungsform.

„Das könnte ein Modell für die Welt werden“, schwärmte Jungk. 30 Jahre nach dem Niedergang des Realsozialismus steht die Welt ohne jedes durchsetzungsfähige Modell da. Aber welches Land hört schon auf seine Intellektuellen. Von ihnen veröffentlichte im Dezember 89 die Frankfurter Rundschau die „Erklärung der Hundert: Wider Vereinigung“. Es werde unverhohlen ein Export der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik nach Osten angepeilt. Diese Großmannspolitik werde „die Wiedervereinigung in einem Scherbenhaufen enden lassen und den Aufbau des Europäischen Hauses gefährden“. Ein Scherbenhaufen als Humus für die AfD.

Auch die Vorhersage, dass Europa durch deutsche Großmannspolitik bedroht werde, war weitsichtig und zeigt zugleich: Man konnte das alles absehen. Die eingetretenen Entwicklungen hatten nichts mit einer vom Himmel gefallenen Globalisierung zu tun. Der neoliberale Raubmensch-Kapitalismus war nur insofern ein Naturereignis, als nicht zu bestreiten ist, dass auch Aasgeier natürliche Wesen sind.

Kohls Ausschüttung des eiligen Geistes hatte auch die Leipziger Montagsdemonstranten in rivalisierende Gruppen polarisiert.

Gegen Tausende Träger schwarz-rot-goldener Fahnen – wo immer die herkamen – rückte ein großer Trupp Studenten an mit Losungen wie: „Reinigen statt einigen“, „Kommt die DM zu früh, kommt die Vernunft zu spät“. Die meist etwas Älteren mit den Fahnen skandierten daraufhin: „Rote aus der Demo raus!“ Die Jungen wehrten sich mit: „Nazis raus!“ Es kam zu Tumulten. Plötzlich regnete es vom Himmel 100-DM-Scheine. Mit dem umseitigen Aufdruck: Schon eingekauft? Für einen Moment verschlug es beiden Seiten die Sprache. Wird die Demo als Erstes gekauft? Wer bei ARD und ZDF in der ersten Reihe saß, bekam künftig fast nur noch die nationale Flagge zu sehen und Demonstranten, die eine schnelle Einheit forderten, als das nachweislich noch nicht Mehrheitsmeinung war.

Am heftigsten wurde die DDR in dieser Zeit dadurch destabilisiert, dass täglich etwa 2.000 Menschen durch die offene Mauer das Land verließen. Der sowjetische Botschafter Kwizinskij sprach am 5. Dezember im Bundeskanzleramt vor. Die sowjetische Führung sei besorgt, dass die westlichen Massenmedien die Menschen in der DDR zur illegalen Ausreise aufstacheln.

Die Bundesregierung kam in dieser den Lebensnerv treffenden Frage dem Modrow-Kabinett keinen Millimeter entgegen. Euphorische Empfänge in den Aufnahmestellen, Begrüßungsgeld und bevorzugte Hilfe bei der Suche nach Wohnung und Arbeit waren garantiert und wurden öffentlichkeitswirksam propagiert. „Wir sind uns darüber im Klaren“, notierte Kohl-Berater Horst Teltschik in sein Tagebuch, dass erst „nach der Wahl Übersiedler so behandelt werden müssen wie Bundesbürger, die ihren Wohnort wechseln“ [2]. Kohl frohlockte im In- und Ausland, dass die DDR „die Lage nicht im Griff“ habe. Und auf dem Ku’damm demonstrierten 20.000 Westberliner unter dem Motto: Unheilbares Deutschland.

Wahlbeeinflussung und endgültiger Bruch mit dem Sozialismus

Bei seinem ersten großen Wahlkampfauftritt in Erfurt verkündete der führende Historiker unter tosendem Beifall ein achtes Weltwunder. Nach den Hängenden Gärten zu Babylon nun die Blühenden Landschaften in Kohlrabien. Auf der Montagsdemo in Leipzig wurde indessen ein Bürgerrechtler, der vor drohender Arbeitslosigkeit warnte, von Aufhören-Rufen unterbrochen. Eine Sprecherin, die Wuchermieten prophezeite, falls westdeutsche Eigentümer zurückkehren, wurde ausgebuht. Verteilt wurden massenhaft Flugblätter der bundesdeutschen Parteien. Diese haben für den vom Runden Tisch unerwünschten Wahlkampf in der DDR 7,5 Millionen DM ausgegeben, wie erst später bekannt wurde. Der Löwenanteil ging von der CDU an die neue Ostschwester und von der CSU an die rechtskonservative DSU.

Hatte sich der „Demokratische Aufbruch“ (DA) in seiner Anfangsphase noch gegen die Unterstellung verwahrt, „die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen“, so hat er im Laufe des Herbstes einen Rechtsruck vollzogen und es dem machtbewussten Kohl leicht gemacht, den zwielichtigen Vorsitzenden des DA, Wolfgang Schnur, für die „Allianz für Deutschland“ zu vereinnahmen. Bei dem im kleinsten Kreis von Kohl-Vertrauten in Westberlin gegründeten Wahlbündnis dieser drei ging es wohlgemerkt um Volkskammerwahlen der DDR – kann man sich mehr Wahlbeeinflussung vorstellen? Doch, kann man. Und daran zu erinnern ist nicht der Schnee von gestern, sondern betrifft das bis heute im Osten anhaltende Dilemma.

Die Stärke jener Allianz war schwer zu beurteilen, Umfragen sagten immer noch einen Erdrutschsieg der SPD voraus. Am 6. Februar traf sich Bundesbankpräsident Karl-Otto Pöhl (SPD) mit dem Staatsbankpräsidenten der DDR Kaminsky und der DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft und stimmte öffentlich deren Haltung zu, nach der eine schnelle Währungsunion eine völlig abwegige Idee sei. Luft hatte zudem klargemacht, dass ein so einschneidender Eingriff nur über einen Volksentscheid beschlossen werden dürfe. Schon um den Wählern die Tragweite eines solchen auf den ersten Blick verlockenden Angebotes bewusst zu machen.

Ohne Rücksicht auf die DDR-Regierung und den eigenen, damit desavouierten Bundesbankpräsidenten bot Kanzler Kohl am selben Tag eine baldige Währungsunion mit einem Umtauschverhältnis von 1:1 an. Der wie alle völlig überraschte SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel sprach sich aus guten Gründen dagegen aus. Die sowieso erregten DDR-Bürger waren nun elektrisiert.

Drei Tage später setzte Kohls engster Berater Horst Teltschik im Bundespresseamt noch einen drauf. Er sagte den nahen wirtschaftlichen Kollaps der DDR voraus, es zeichne sich ab, dass sie in wenigen Tagen völlig zahlungsunfähig sei und erhebliche Stabilitätshilfen benötige. Am selben Tag distanzierte sich der sachkundige Präsident des Bundesverbandes Deutscher Banken und Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Wolfgang Röller, auf einer eiligst einberufenen Pressekonferenz von dieser Behauptung und sprach von „durchsichtigen Bankrottgerüchten“. Doch dieses Dementi fand in den Medien kaum Beachtung, die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit war Aufmacher jeder Zeitung.

Teltschik erklärt seinem Tagebuch: „Wir hatten angesichts der wirtschaftlichen Situation in der DDR sowie der ständig steigenden Übersiedlerzahlen seit Tagen über einen solchen Schritt diskutiert“ (mit wem wohl, wenn nicht mal mit dem Bundesbankpräsidenten? D. D.). „Unsere Überlegung war: Wenn wir nicht wollen, dass sie zur D-Mark kommen, muss die D-Mark zu den Menschen gehen“ [3].

Diese Formulierung vom 6. Februar ist bemerkenswert. Heißt es doch bis heute, die Straße habe nach dem Geld geschrien, sodass die Politiker nicht anders konnten, als es rauszurücken. Es ist aber erwiesen, dass die Losung „Kommt die D-Mark nicht nach hier – gehen wir zu ihr!“ erstmalig am 12. Februar auf der Montagsdemo in Leipzig auftauchte. Also mindestens sechs Tage, nachdem die Idee im Kreis der Kohlvertrauten ersonnen, auf unergründlichen Wegen in Leipzig die Massen ergriff und zur materiellen Gewalt wurde. Nun war klar, wozwischen die DDR-Bürger in einigen Tagen die Wahl haben würden: die D-Mark 1:1 oder Kollaps. Zumal der Begriff „Zahlungsunfähigkeit“ ein völliges Novum war und große Irritation auslöste.

In Gesprächen auf der Straße oder in der Sparkasse fragten sich die Menschen, ob denn die Auszahlung der Löhne und Spareinlagen noch gesichert sei. In den darauffolgenden Tagen kam es zu einer fast flächendeckenden Abkehr von allerdings längst brüchig gewordenen Überzeugungen. Der einzige programmatische Unterschied der Ost-CDU zur großen Schwesterpartei blieb vorerst die kompromisslose Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Ansonsten vollzog Lothar de Maizière, nur drei Wochen nachdem er dies noch den Kindern und Enkeln überlassen wollte, den endgültigen Bruch mit dem Sozialismus.

Die SPD mit ihrer völlig berechtigten zögerlichen Haltung zu übereilter Einheit stürzte in der Volkskammerwahl vom 18. März ab – von noch unlängst prognostizierten 54 Prozent auf 21,9 Prozent. Sie hat sich davon jahrelang nicht erholt. Der Riesenvorsprung der CDU erklärte sich aus deren Erlösungsversprechen. Die Leute glaubten, das Kapital zu wählen und wählten die Kapitulation.

Quellen:

Die Quellen zu diesem Artikel finden Sie im Buch.


Das Buchcover des sehr lesenswerten Buches von Daniela Dahn „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit – eine Abrechnung“.