Feindbild Russland:

Die Putin-Versteher

Wie das „Feindbild Russland“ installiert worden ist.

Von Published On: 29. Juni 2017Kategorien: Geopolitik, Krieg & Frieden

Dieser Text wurde zuerst am 10.06.2017 auf www.rubikon.news unter der URL <https://www.rubikon.news/artikel/die-putin-versteher/> veröffentlicht. Lizenz: Initiative zur Demokratisierung der Meinungsbildung gGmbH/Jens Wernicke, CC BY-NC-ND 4.0.

Foto: Pixabay (CC0)

Seit der Jahrhundertwende verschlechtern sich die Beziehungen des Westens zu Russland im Fünfjahresrhythmus. Den jeweiligen Zäsuren 1999 (NATO-Krieg gegen Jugoslawien), 2003 (Irak-Krieg & Festnahme von Michail Chodorkowski), 2008 (Georgien-Krieg) und 2013/14 (Ukraine-Krise) folgte eine politisch und medial immer aufgeladenere Stimmung, die Schritt für Schritt in Hetze umschlug. Je nach Qualität des Russland-Bashings galt seinen Betreibern das Land als Ganzes, die Russen als Ethnie oder ihr Führer, Wladimir Putin, als verachtenswerter Gegner, den man in die Schranken weisen müsse. So wurde der Begriff „Putin-Versteher“ zum Schimpfwort.

Bevor das unsägliche Wort vom Putin-Versteher im Westen – und nur dort wurde es verwendet und machte seinen (Un)Sinn – in Gebrauch kam, gab es schon einen sehr prominenten Vertreter dieser Spezies. Gerard Depardieu war Putin-Versteher der ersten Stunde. Lange vor der Ukrainekrise outete sich der französische Schauspieler und Winzer als Freund des russischen Präsidenten. Die beiden Männer mögen einander. Am 3. Januar 2013 erhielt Depardieu die russische Staatsbürgerschaft aus der Hand des Kreml-Chefs. Seither ist sein offizieller Wohnsitz Saransk, wo der Schauspieler auch ein Restaurant betreibt.

Nun ist klar, dass der Terminus Putin-Versteher nicht für Charakterdarsteller wie Depardieu erfunden worden ist. Dessen positiver Bezug zu Putin wurzelt neben der persönlichen Beziehung in einem französischen Steuergesetz, das einen Sondersteuersatz von 75% für einen gewissen Betrag bei höchsten Einkommen eingeführt hat, wenn diese über 1,2 Mio. Euro liegen. So symbolisch dieser Spitzensteuersatz ist, weil er nie zur Gesamtbesteuerung in der Höhe von 75% führt, so symbolisch war auch die Emigration Gerard Depardieus. Und doch stellt sie einen Wendepunkt in der Beziehung des Westens mit Russland dar.

Dem Steuerflüchtling Depardieu folgte der prominente politische Flüchtling Edward Snowden. Der US-amerikanische Aufdecker weltweiter Schnüffel- und Abhöraktionen des Geheimdienstes „National Security Agency“ (NSA), für den er gearbeitet hatte, floh vor drohender politischer Repression in seiner Heimat nach Russland. Dort erhielt er zeitlich beschränktes Asyl. Washington will Snowden wegen Spionage anklagen; seine Tat hat jedoch nichts mit Spionieren für ausländische Mächte wie China, Russland oder andere Staaten zu tun. Er deckte vielmehr illegale und unmoralische Praktiken des eigenen Geheimdienstes gegen das eigene Volk (und nicht nur dieses) auf. Deshalb stellt er den klassischen Fall eines politischen Flüchtlings dar.

Depardieu und Snowden stehen für ein Bild von Russland, das die Herrschenden im Westen nicht nur nicht wahrhaben wollen, sondern dessen Existenz sie schlichtweg leugnen. Russland ist ihrer Meinung nach ein Land, mit dem man (eingeschränkt durch fallweise Embargos) Geschäfte machen oder dorthin auf Urlaub fahren kann. Eine Flucht dorthin kam seit der kommunistischen Emigration der 1930er Jahre nicht mehr vor. Wenn dann der eine aus steuerlichen Gründen und jemand anderer aus politischen Motiven in dieses Land fliehen, wird das schon fast als feindlicher Akt wahrgenommen.

Der Begriff Putin-Versteher, der von Anfang an diffamierend gemeint war, obwohl doch das Verstehen jedem Urteil und jeder Analyse vorausgehen sollte, kam parallel mit Wortmeldungen auf, in denen sich Personen des öffentlichen Interesses nicht vorbehaltlos feindselig zur Politik Moskaus gegenüber den Ereignissen in der Ukraine äußerten. Paradigmatisch für die Hetze, die gegen jene betrieben wurde, die die Vorbehalte des Kreml im Angesicht des putschartigen Machtwechsels von Kiew im Februar 2014 verstanden, liest sich z.B. ein Artikel im Schweizer Tages-Anzeiger vom 20. März 2014.

Dessen Deutschland-Korrespondent beschreibt unter der Überschrift „Die Putin-Versteher“ selbige mit höchster Verachtung. Diese sind „eine seltsame Allianz aus Putin-Fans, EU-Kritikern und antiamerikanischen Wutbürgern“, die „seit Wochen ihr Unwesen treibt“ und „sogar im Bundestag ihre Grundthese“ verbreite, wonach „Russland in der Ukraine nur seine Interessen verteidige.“ Die „Linke“-Abgeordnete und damalige stellvertretende Parteichefin Sarah Wagenknecht bezeichnet der Korrespondent des Tages-Anzeigers gar als „Speerspitze von Putins fünfter Kolonne“ und brandmarkt sie mithin als Verräterin.

Auch der Publizist Jakob Augstein bekommt sein Fett vom korrespondierenden Russenhasser David Nauer ab, weil er es wagte, auf Spiegel Online zu kommentieren: „Die Kalten Krieger sitzen nicht im Kreml, sondern in Washington, in Brüssel und in Berlin.“ Und sogar die ehemalige Schweizer Außenministerin erhält die Punze „Putin-Versteher“. Sie merkte in der Aargauer Zeitung leise an, „dass die EU eine gewisse Mitschuld an der Krise trägt“. Im Frühling 2014 herrschte Kriegsstimmung. In der Ukraine gingen Militärs und rechtsradikale Paramilitärs gegen russischstämmige Landsleute im Osten vor; in Deutschland, Österreich und der Schweiz assistierten meinungsbildende Medien diesem Vorgehen Legitimität und attackierten all jene, die sich dem herrschenden Bellizismus widersetzten.

Als eine weitere prominente Stimme der Putin-Versteher outete sich die ehemalige ARD-Moderatorin Gabriele Krone-Schmalz. Ihr Buch mit dem Titel „Russland verstehen“, 2015 erschienen, versuchte den negativ konnotierten Begriff ins notwendig Vernünftige zu drehen. „Wie ist es um eine politische Kultur eines Landes bestellt“, kritisiert sie im Vorwort die im Land herrschende, dumpfe Russophobie, „in der ein Begriff wie ‚Russlandversteher’ zur Stigmatisierung und Ausgrenzung taugt? Muss man nicht erst einmal etwas verstehen, bevor man es beurteilen kann.“ So selbstverständlich ihr Einwand klingt, die diffamierende Punze blieb an ihr haften.

Am 3. Dezember 2014 erschien dann ein offener Brief von knapp 70 ehemals hochrangigen deutschen Politikern und Künstlern, die davor warnten, sich über die Ukrainekrise in einen Krieg hineinziehen zu lassen. Obwohl darin mit keinem Wort Verständnis für Putins Vorgehen auf der Krim oder im Donbass geäußert wird, haftete den Unterzeichnern sogleich das Stigma des Putin-Verstehers an.

„Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“, titelte der von Horst Teltschik (CDU), Walther Stützle (SPD) und Antje Vollmer (Grüne) initiierte Appell. „Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen“, stand da geschrieben. „Das wäre unvernünftig und gefährlich für den Frieden.“ Unterschrieben wurde der Brief u.a. von Roman Herzog, Gerhard Schröder, Manfred Stolpe, Otto Schily, Christoph Hein und Wim Wenders. Das Selbstverständliche erforderte in jenen Tagen schon Mut, auch wenn die Initiatoren penibel darauf achteten, nur ja niemanden aus dem Lager der „Linken“, die als einzige klar gegen westliche Einmischung und NATO-Eskalation in der Ukraine auftraten, mit ins Boot des Appells zu holen.

Selbst dieser sich jeder Aussage zum Kreml enthaltende offene Brief rief sofort eine Gegenreaktion russophober Kräfte hervor. Zirka 150 OsteuropaexpertInnen forderten nur wenige Tage später eine „realitätsbasierte statt illusionsgeleitete Russlandpolitik“ , wie sie ihren Appell nannten. Sie grenzten sich damit bewusst von der Friedensforderung ab, die den Aufruf der Ex-Politiker kennzeichnete. Stattdessen setzten die OsteuropaexpertInnen auf „die territoriale Integrität der Ukraine, Georgiens und Moldawiens“, was angesichts der ein halbes Jahr zuvor erfolgten Abspaltung der Krim sowie der umstrittenen Grenzen Georgiens und Moldawiens gerade jene Gefahr heraufbeschwor, die Roman Herzog & Co. eindämmen wollten. Die ukrainische, georgische und moldawische Territorialität dürfe, wurden die Feinde Moskaus noch deutlicher und aggressiver, „nicht der ‚Besonnenheit’ deutscher (und österreichischer) Russlandpolitik geopfert werden.“ Und: „Dem Export der illiberalen Gesellschaftsvorstellungen des Kremls in die EU sollte in unserem eigenen Interesse entgegengewirkt werden“.

Die klaren Worte der Unbesonnenen reden den Krieg herbei. Und sie unterscheiden scharf zwischen einem „illiberalen“, mithin illegitimen Regime in Moskau und ihrer Meinung nach liberal-demokratischen Zuständen in der Ukraine Poroschenkos und Jazenjuks, in Georgien oder Moldawien. Ihre Feindschaft zu Russland ist manifest, sie speist sich aus jenen Vorurteilen, die die Zunft der Osteuropa-Historiker seit Jahrzehnten aufgebaut hat und bei der es nun darum geht, sie von anti-kommunistisch auf anti-russisch zu trimmen. Den Namen der 150 UnterzeichnerInnen mangelt zwar die Prominenz auf dem Feld der Politik; in den Hörsälen und Zeitungsspalten sind sie aber führend präsent.

Die Liste reicht von Martin Aust (Universität München) und Klaus Bednarz (ARD-Büro Moskau) über Ulf Brunnbauer (Universität Regensburg) und Rebecca Harms (Europäisches Parlament) zu Andreas Kappeler (Universität Wien) und Markus Merkel bis Karl Schlögel (Universität Frankfurt/Oder), Jens Siegert (Heinrich Böll Stiftung Moskau) und Stefan Troebst (Universität Leipzig). Der russophobe Appell versammelt, ähnlich wie damalige kriegstreiberische Stellungnahmen vor dem NATO-Angriff auf Jugoslawien – will man es parteipolitisch fassen, was freilich vielen einzelnen UnterzeichnerInnen nicht gerecht wird – eher CDU- und Grünen-affine Menschen. Das Bild von der sogenannten „nationalen Selbstbestimmung“, das Südosteuropa schon 1991 bis 1999 in einen schrecklichen Krieg geführt hat, wiederholt sich hier in – wie die Unterzeichner indirekt selbst zugeben – unbesonnener Weise.

Quellen:

Der Beitrag ist ein Kapitel aus dem Buch von Hannes Hofbauer: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung, erschienen im Promedia Verlag (Wien 2016, 4. Auflage).

Feindbild Russland:

Die Putin-Versteher

Wie das „Feindbild Russland“ installiert worden ist.

Von Published On: 29. Juni 2017Kategorien: Geopolitik, Krieg & Frieden

Dieser Text wurde zuerst am 10.06.2017 auf www.rubikon.news unter der URL <https://www.rubikon.news/artikel/die-putin-versteher/> veröffentlicht. Lizenz: Initiative zur Demokratisierung der Meinungsbildung gGmbH/Jens Wernicke, CC BY-NC-ND 4.0.

Foto: Pixabay (CC0)

Seit der Jahrhundertwende verschlechtern sich die Beziehungen des Westens zu Russland im Fünfjahresrhythmus. Den jeweiligen Zäsuren 1999 (NATO-Krieg gegen Jugoslawien), 2003 (Irak-Krieg & Festnahme von Michail Chodorkowski), 2008 (Georgien-Krieg) und 2013/14 (Ukraine-Krise) folgte eine politisch und medial immer aufgeladenere Stimmung, die Schritt für Schritt in Hetze umschlug. Je nach Qualität des Russland-Bashings galt seinen Betreibern das Land als Ganzes, die Russen als Ethnie oder ihr Führer, Wladimir Putin, als verachtenswerter Gegner, den man in die Schranken weisen müsse. So wurde der Begriff „Putin-Versteher“ zum Schimpfwort.

Bevor das unsägliche Wort vom Putin-Versteher im Westen – und nur dort wurde es verwendet und machte seinen (Un)Sinn – in Gebrauch kam, gab es schon einen sehr prominenten Vertreter dieser Spezies. Gerard Depardieu war Putin-Versteher der ersten Stunde. Lange vor der Ukrainekrise outete sich der französische Schauspieler und Winzer als Freund des russischen Präsidenten. Die beiden Männer mögen einander. Am 3. Januar 2013 erhielt Depardieu die russische Staatsbürgerschaft aus der Hand des Kreml-Chefs. Seither ist sein offizieller Wohnsitz Saransk, wo der Schauspieler auch ein Restaurant betreibt.

Nun ist klar, dass der Terminus Putin-Versteher nicht für Charakterdarsteller wie Depardieu erfunden worden ist. Dessen positiver Bezug zu Putin wurzelt neben der persönlichen Beziehung in einem französischen Steuergesetz, das einen Sondersteuersatz von 75% für einen gewissen Betrag bei höchsten Einkommen eingeführt hat, wenn diese über 1,2 Mio. Euro liegen. So symbolisch dieser Spitzensteuersatz ist, weil er nie zur Gesamtbesteuerung in der Höhe von 75% führt, so symbolisch war auch die Emigration Gerard Depardieus. Und doch stellt sie einen Wendepunkt in der Beziehung des Westens mit Russland dar.

Dem Steuerflüchtling Depardieu folgte der prominente politische Flüchtling Edward Snowden. Der US-amerikanische Aufdecker weltweiter Schnüffel- und Abhöraktionen des Geheimdienstes „National Security Agency“ (NSA), für den er gearbeitet hatte, floh vor drohender politischer Repression in seiner Heimat nach Russland. Dort erhielt er zeitlich beschränktes Asyl. Washington will Snowden wegen Spionage anklagen; seine Tat hat jedoch nichts mit Spionieren für ausländische Mächte wie China, Russland oder andere Staaten zu tun. Er deckte vielmehr illegale und unmoralische Praktiken des eigenen Geheimdienstes gegen das eigene Volk (und nicht nur dieses) auf. Deshalb stellt er den klassischen Fall eines politischen Flüchtlings dar.

Depardieu und Snowden stehen für ein Bild von Russland, das die Herrschenden im Westen nicht nur nicht wahrhaben wollen, sondern dessen Existenz sie schlichtweg leugnen. Russland ist ihrer Meinung nach ein Land, mit dem man (eingeschränkt durch fallweise Embargos) Geschäfte machen oder dorthin auf Urlaub fahren kann. Eine Flucht dorthin kam seit der kommunistischen Emigration der 1930er Jahre nicht mehr vor. Wenn dann der eine aus steuerlichen Gründen und jemand anderer aus politischen Motiven in dieses Land fliehen, wird das schon fast als feindlicher Akt wahrgenommen.

Der Begriff Putin-Versteher, der von Anfang an diffamierend gemeint war, obwohl doch das Verstehen jedem Urteil und jeder Analyse vorausgehen sollte, kam parallel mit Wortmeldungen auf, in denen sich Personen des öffentlichen Interesses nicht vorbehaltlos feindselig zur Politik Moskaus gegenüber den Ereignissen in der Ukraine äußerten. Paradigmatisch für die Hetze, die gegen jene betrieben wurde, die die Vorbehalte des Kreml im Angesicht des putschartigen Machtwechsels von Kiew im Februar 2014 verstanden, liest sich z.B. ein Artikel im Schweizer Tages-Anzeiger vom 20. März 2014.

Dessen Deutschland-Korrespondent beschreibt unter der Überschrift „Die Putin-Versteher“ selbige mit höchster Verachtung. Diese sind „eine seltsame Allianz aus Putin-Fans, EU-Kritikern und antiamerikanischen Wutbürgern“, die „seit Wochen ihr Unwesen treibt“ und „sogar im Bundestag ihre Grundthese“ verbreite, wonach „Russland in der Ukraine nur seine Interessen verteidige.“ Die „Linke“-Abgeordnete und damalige stellvertretende Parteichefin Sarah Wagenknecht bezeichnet der Korrespondent des Tages-Anzeigers gar als „Speerspitze von Putins fünfter Kolonne“ und brandmarkt sie mithin als Verräterin.

Auch der Publizist Jakob Augstein bekommt sein Fett vom korrespondierenden Russenhasser David Nauer ab, weil er es wagte, auf Spiegel Online zu kommentieren: „Die Kalten Krieger sitzen nicht im Kreml, sondern in Washington, in Brüssel und in Berlin.“ Und sogar die ehemalige Schweizer Außenministerin erhält die Punze „Putin-Versteher“. Sie merkte in der Aargauer Zeitung leise an, „dass die EU eine gewisse Mitschuld an der Krise trägt“. Im Frühling 2014 herrschte Kriegsstimmung. In der Ukraine gingen Militärs und rechtsradikale Paramilitärs gegen russischstämmige Landsleute im Osten vor; in Deutschland, Österreich und der Schweiz assistierten meinungsbildende Medien diesem Vorgehen Legitimität und attackierten all jene, die sich dem herrschenden Bellizismus widersetzten.

Als eine weitere prominente Stimme der Putin-Versteher outete sich die ehemalige ARD-Moderatorin Gabriele Krone-Schmalz. Ihr Buch mit dem Titel „Russland verstehen“, 2015 erschienen, versuchte den negativ konnotierten Begriff ins notwendig Vernünftige zu drehen. „Wie ist es um eine politische Kultur eines Landes bestellt“, kritisiert sie im Vorwort die im Land herrschende, dumpfe Russophobie, „in der ein Begriff wie ‚Russlandversteher’ zur Stigmatisierung und Ausgrenzung taugt? Muss man nicht erst einmal etwas verstehen, bevor man es beurteilen kann.“ So selbstverständlich ihr Einwand klingt, die diffamierende Punze blieb an ihr haften.

Am 3. Dezember 2014 erschien dann ein offener Brief von knapp 70 ehemals hochrangigen deutschen Politikern und Künstlern, die davor warnten, sich über die Ukrainekrise in einen Krieg hineinziehen zu lassen. Obwohl darin mit keinem Wort Verständnis für Putins Vorgehen auf der Krim oder im Donbass geäußert wird, haftete den Unterzeichnern sogleich das Stigma des Putin-Verstehers an.

„Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“, titelte der von Horst Teltschik (CDU), Walther Stützle (SPD) und Antje Vollmer (Grüne) initiierte Appell. „Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen“, stand da geschrieben. „Das wäre unvernünftig und gefährlich für den Frieden.“ Unterschrieben wurde der Brief u.a. von Roman Herzog, Gerhard Schröder, Manfred Stolpe, Otto Schily, Christoph Hein und Wim Wenders. Das Selbstverständliche erforderte in jenen Tagen schon Mut, auch wenn die Initiatoren penibel darauf achteten, nur ja niemanden aus dem Lager der „Linken“, die als einzige klar gegen westliche Einmischung und NATO-Eskalation in der Ukraine auftraten, mit ins Boot des Appells zu holen.

Selbst dieser sich jeder Aussage zum Kreml enthaltende offene Brief rief sofort eine Gegenreaktion russophober Kräfte hervor. Zirka 150 OsteuropaexpertInnen forderten nur wenige Tage später eine „realitätsbasierte statt illusionsgeleitete Russlandpolitik“ , wie sie ihren Appell nannten. Sie grenzten sich damit bewusst von der Friedensforderung ab, die den Aufruf der Ex-Politiker kennzeichnete. Stattdessen setzten die OsteuropaexpertInnen auf „die territoriale Integrität der Ukraine, Georgiens und Moldawiens“, was angesichts der ein halbes Jahr zuvor erfolgten Abspaltung der Krim sowie der umstrittenen Grenzen Georgiens und Moldawiens gerade jene Gefahr heraufbeschwor, die Roman Herzog & Co. eindämmen wollten. Die ukrainische, georgische und moldawische Territorialität dürfe, wurden die Feinde Moskaus noch deutlicher und aggressiver, „nicht der ‚Besonnenheit’ deutscher (und österreichischer) Russlandpolitik geopfert werden.“ Und: „Dem Export der illiberalen Gesellschaftsvorstellungen des Kremls in die EU sollte in unserem eigenen Interesse entgegengewirkt werden“.

Die klaren Worte der Unbesonnenen reden den Krieg herbei. Und sie unterscheiden scharf zwischen einem „illiberalen“, mithin illegitimen Regime in Moskau und ihrer Meinung nach liberal-demokratischen Zuständen in der Ukraine Poroschenkos und Jazenjuks, in Georgien oder Moldawien. Ihre Feindschaft zu Russland ist manifest, sie speist sich aus jenen Vorurteilen, die die Zunft der Osteuropa-Historiker seit Jahrzehnten aufgebaut hat und bei der es nun darum geht, sie von anti-kommunistisch auf anti-russisch zu trimmen. Den Namen der 150 UnterzeichnerInnen mangelt zwar die Prominenz auf dem Feld der Politik; in den Hörsälen und Zeitungsspalten sind sie aber führend präsent.

Die Liste reicht von Martin Aust (Universität München) und Klaus Bednarz (ARD-Büro Moskau) über Ulf Brunnbauer (Universität Regensburg) und Rebecca Harms (Europäisches Parlament) zu Andreas Kappeler (Universität Wien) und Markus Merkel bis Karl Schlögel (Universität Frankfurt/Oder), Jens Siegert (Heinrich Böll Stiftung Moskau) und Stefan Troebst (Universität Leipzig). Der russophobe Appell versammelt, ähnlich wie damalige kriegstreiberische Stellungnahmen vor dem NATO-Angriff auf Jugoslawien – will man es parteipolitisch fassen, was freilich vielen einzelnen UnterzeichnerInnen nicht gerecht wird – eher CDU- und Grünen-affine Menschen. Das Bild von der sogenannten „nationalen Selbstbestimmung“, das Südosteuropa schon 1991 bis 1999 in einen schrecklichen Krieg geführt hat, wiederholt sich hier in – wie die Unterzeichner indirekt selbst zugeben – unbesonnener Weise.

Quellen:

Der Beitrag ist ein Kapitel aus dem Buch von Hannes Hofbauer: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung, erschienen im Promedia Verlag (Wien 2016, 4. Auflage).