Es ist was faul im Staate Dänemark

Im Jahr 2016 war Dänemark das glücklichste Land der Welt. Nirgendwo sonst auf diesem Planeten sind die Menschen so zufrieden mit ihrem Leben wie unsere nördlichen Nachbarn..

Von Published On: 20. Januar 2020Kategorien: Geopolitik, Gesellschaft & Geschichte

Dieser Text wurde zuerst am 14.01.2020 auf www.KenFM.de unter der URL <https://kenfm.de/tagesdosis-14-1-2020-es-ist-etwas-faul-im-staate-daenemark-podcast/> veröffentlicht. Lizenz: ©KenFM/Dirk Pohlmann

Foto: Constantin Hansen, Slottet Kronborg, 1834, Statens Museum for Kunst. Wikimedia Commons

Im Jahr 2018 lag Dänemark mit seinen 5 einhalb Millionen Einwohnern noch auf Platz zwei. Überhaupt sind die Nordeuropäer sehr zufrieden. Auf den ersten vier Plätzen des Glücksindex wechseln sich Finnland, Dänemark, Norwegen und Island ab – und auch Schweden liegt auf Platz sieben. Dazwischen sind Holland und die Schweiz. Der Rest der Welt kommt danach. Fazit: Es geht den Leuten gut in Skandinavien. Das liegt am hohen Einkommen, einer langen Lebenserwartung und gut funktionierenden Sozialleistungen. Korruption ist in Skandinavien kein Problem, auch dort belegen die Länder Spitzenplätze. Heißt es.

Trotzdem sind Jeanette Strauss, Per X und Bitten Jensen alles andere als glückliche Dänen. Sie sind in die Mühlen eines zunehmend privatisierten Sozialstaats geraten. Sie sind Opfer eines unerkannten gesamteuropäischen Trends geworden.

Auch in Dänemark begann Anfang des Jahrtausends ein Umbau der Gesellschaft im Sinne des Markradikalismus. Weniger Staat, mehr Netto vom Brutto und agile, private Unternehmen statt staatlicher Dinosaurier, das waren die Verheißungen der schönen, neuen neoliberalen Welt made in Europe. Toni Blair überholte Margaret Thatcher so scharf rechts, dass die eiserne Lady „New Labour“ als den größten Erfolg ihrer Regierungzeit bezeichnete.  In Deutschland waren es Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die den „Nixon-Effekt“ nutzten. Er heißt so, weil es ausgerechnet Richard Nixon war, ein Kommunistenfresser der McCarthy Ära, der Beziehungen zu China aufnahm. Er konnte das, weil ihm niemand unterstellte, zu weich und unachtsam gegenüber den bösen Commies zu sein, wie man es z.B. John F. Kennedy vorgeworfen hatte.

Aus derselben Logik heraus war es auch den „New Labour“-Deutschen Schröder und Fischer möglich, das soziale Netz der Arbeiter rabiat zusammenzukürzen und das Geld in die Taschen der Besitzenden umzuleiten. Irgendwie wollte es ihnen niemand so richtig zutrauen, was sie tatsächlich taten. In Deutschland wurde die Agenda 2010 aufgesetzt, und Peter Hartz wurde zum Namensgeber einer Reform, die der SPD später eine Erosion ihrer Wählerschaft bescherte. Mittlerweile ist die ehrwürdige Partei auf dem Weg in die Einstelligkeit, nicht zuletzt wegen Hartz 4.
Auch die traditionell sozialdemokratischen Gesellschaften Skandinaviens wurden modernisiert, wie man das damals nannte. Um Kosten zu sparen.

Jeanette Strauss war eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern. Ihre 14jährige Tochter Frida hatte gerade (wie die Hälfte aller Schüler ihrer Schule) einen Schulverweis wegen Rauchens erhalten.

Dann wurde Jeanette Strauss von einem Moment auf den anderen gekündigt, was im supersozialen Dänemark durchaus möglich ist – unrechtmäßig, wie sich später herausstellte. Sie hatte mit ihrem geringen Einkommen weitgehend von der Hand in den Mund gelebt und wusste nicht, wie sie ohne Lohn die Miete zahlen sollte. Also ging sie zur Gemeinde und bat um Hilfe, um einen rückzahlbaren Kredit für ein paar Monate, irgendeine Unterstützung – etwas, das ihr aus der bevorstehenden Zwickmühle helfen würde. Sie bekam keine Hilfe.

Stattdessen entschieden die Mitarbeiter der Kommune Frederiksberg nach 20 Minuten Gespräch, Jeanette Strauss ihre Kinder wegzunehmen. Frida Strauss wurde in einen Raum geführt, wo man ihr sagte, sie solle sich einen betreute Wohnung aussuchen, wo sie ein paar Wochen auf ihre Mutter warten würde können, bis diese sich beruhigt habe. Dass ihre Mutter das so wolle. Eine Lüge. Frida wollte nicht weg von ihrer Mutter, aber sie durfte sie nicht mehr sehen. Die Gemeinde behauptete, Jeanette Strauss habe der Wegnahme ihrer Tochter zugestimmt.

Jeanette Strauss konnte nicht glauben, was ihr da passierte, sie wurde wütend, weinte und beschimpfte die Gemeindemitarbeiter. Ihre Verzweiflung wurde gegen sie verwendet, als Beleg, dass sie nicht für ihre Tochter sorgen könne und psychologische Behandlung brauche. Die wurde ihr aufgezwungen. Das ging so mehrere Jahre, bis 2019, bis auch offiziell zugegeben wurde, dass es sich um einen Fehler außerhalb jeglicher geltenden Gesetze handelte. Mittlerweile war Jeanette Strauss arbeitsunfähig geworden, ihre Tochter hatte unter der Obhut der Betreuer der Gemeinde Alkoholprobleme entwickelt und verwahrloste. Die Familie war zerstört und zum Sozialfall geworden. Inzwischen ist Frida Strauss volljährig, auf einem guten Weg und streitet für sich und die Rechte ihre Mutter.

 


Jeanette Strauss verliest bei einer Stadtratssitzung im Rathaus von Frederiksberg einen Brief an die Politiker, den Frida an den „Ombudsmann“ geschickt hatte. Frida bekam nie eine Antwort. Hinter ihr steht Frida Strauss, im Vordergrund unten Bitten Vivi Jensen. (Quelle: Leben über Recht: „Gemeinde Frederiksberg zerschlägt ganze Familie“. 04/28/2018. YouTube-Screenshot.)

Es ist nach wie vor besonders schockierend, dass Jeanette und Frida jahrelang gegen Windmühlen kämpften, ohne die Aussicht, ein juristisches Verfahren anstrengen zu können, dass schnell Abhilfe schaffen könnte. Ihre Situation war kafkaesk, zum Verweifeln. Und sie sind verzweifelt.
Neben einer fiktiven Welt des Rechtsstaates und der Gesetze gab es die Realität einer Maßnahmenwelt, gegen die sie nicht ankamen.

Per X war Bootsbauer und hatte seit seinem 13. Lebensjahr ohne Unterbrechung gearbeitet. Er leidet an einer seltenen genetischen Krankheit, bei der Muttermale seine Nerven und Organe angreifen. Nur etwa 150 Menschen weltweit leiden darunter. Diese Krankheit wurde schließlich anhand von Gewebeproben von einem deutschen Universitätsprofessor diagnostiziert. Aber das wusste Per X damals noch nicht. Er merkte nur, dass es ihm immer schlechter ging. Er meldete sich krank mit den Symptomen Schmerzen in den Muskeln des linken Beines, Armes, starke Kopfschmerzen und Abgeschlagenheit. Er wurde arbeitsunfähig. Nach einiger Zeit wurde ihm die Unterstützung gestrichen.

Per wurde depressiv, er wusste nicht, wie er seine Familie ernähren sollte. Er wurde deshalb in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Eine Angestellte seiner Gemeinde versuchte ihn entsprechend ihrer Vorgaben zu Zeitarbeit einzuteilen, um seine Arbeitskraft zur Erstattung der Kosten einsetzen zu können, die er verursachte. Auf seiner elektronischen Datei im „Jobcenter“ entdeckte er, dass er angeblich 390 Stunden psychologische Behandlung erhalten hatte, die abgerechnet worden waren. Aber er war keine einzige Minute in Behandlung gewesen. Hier war wohl eine Menge Geld in einem schwarzen Loch verschwunden. Aber wer war das schwarze Loch?

Per las in Facebook von einem ähnlichen Fall. Er nahm Kontakt mit dem Betroffenen auf. Gemeinsam fanden die beiden weitere Personen mit ähnlichen Vorkommnissen. Sie vermuten, dass sich einzelne Kommunen auf diese Weise betrügerisch aus den Steuern bedienen.

Der Betrug durch Empfänger von Sozialleistungen, der mit der Privatisierung verhindert werden sollte, ist offenbar strukturell organisiert. Es gibt geschäftstüchtige „Unternehmer“, die sich das System zu nutze machen, um ordentlich abzusahnen.

So ist ein ganzer Industriezweig entstanden, der sich darum kümmert, Kranke und Behinderte in Zeitarbeitsverträge zu bekommen. Jeder wird untersucht, ob er noch arbeitsfähig ist, sogar Krebskranke oder Hochbetagte. Die Personen arbeiten dann für Transferleistungen. So haben sich Unternehmen ein Heer von Sklavenarbeitern geschaffen, dass sie ausbeuten können und die Kommunen verdienen an den Transferleistungen.
Es ist nicht verwunderlich, dass der Wille zum Betrug nicht nur bei Arbeitslosen besteht, sondern erst recht in einem Wirtschaftssystem, dass Billig-Lohnarbeit als Geschäftsmodell betrachtet.

Auch wenn uns die Protagonisten dieses Wirtschaftssystems einreden wollen, dass der Fehler im System immer der Mensch ist. Das System ist perfekt!

Per ist kein Einzelfall. Über Facebook hatte sich eine Sozialarbeiterin, Bitten Jensen an die Öffentlichkeit gewendet, weil die Medien, die sie angesprochen hatte, nicht berichten wollten.

Sie hatte mehr als 90 Fälle dieser Art, in die sie involviert war, zusammengetragen und anonymisiert veröffentlicht. Sie spricht davon, dass es im Sozialsystem um Geld gehe, nicht mehr darum, den Menschen zu helfen, die in Notlagen geraten sind. Sie war so entsetzt von der flächendeckenden Unmenschlichkeit und dem Missbrauch der Menschen in Notlagen, dass sie Akten mit nach Hause nahm, um sie zu veröffentlichen. Bitten Jensen bewies damit, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um eine Struktur, um einen Fehler im System, um ein fehlerhaftes System.

 

Der dänische Staat reagierte sofort auf ihre Enthüllungen. Am 29. Januar 2020 soll sie vor Gericht eine Haftstrafe wegen der unerlaubten Veröffentlichung von vertraulichen Daten erhalten. Das System, mit dem sich so gut Geld aus den Steuern veruntreuen lässt, bleibt unangetastet. Vorerst.

Offenbar hat niemand vor, sich damit zu beschäftigen, dass sich die angebliche Lösung eines Kostenproblems, die Modernisierung und Privatisierung von Sozialleistungen, zu einem größeren Problem entwickelt hat. Das ursprüngliche Problem war eine angebliche Kostensteigerung, die es zumindest in Deutschland so gar nicht gegeben hat – obwohl davon ständig die Rede ist.
Man hat das System des sozialen Netzes in ein Geschäftsmodell für skrupellose Cleverles verwandelt, die sich jetzt die Taschen füllen. Auf Kosten der Armen, Schwachen und Kranken. Da ist was faul im Staate Dänemark.

Wie ist das eigentlich in Deutschland? Ist Dänemark unsere Zukunft? Wie viel Dänemark steckt im deutschen Sozial-system? Und warum wissen wir nichts von den dänischen Verhältnissen?

Es wäre sicherlich sinnvoll, wenn es europäische Medien gäbe, die sich damit beschäftigten, was in anderen Ländern los ist. Die europäischen Medien enden in ihren Rechercheanstrengungen in den meisten Fällen an den Landesgrenzen. Wir wissen herzlich wenig darüber, was in der EU so alles passiert, was andere besser oder schlechter machen als wir. Wir lernen nicht voneinander. Es gibt keine europäische Öffentlichkeit. Wir hören nur von Brüssel. Und das hat einen schlechten Ruf.

Europa ist ein großes, schwarzes Informationsloch.

Wir wissen z.B. nicht, dass das in Deutschland seit zwei Jahren geplante Wahrheitsministerium bestehend aus Wikipedia und den öffentlich rechtlichen Sendern, welches – unter Ausschluss der Öffentlichkeit –  langsam Gestalt annimmt, bereits in Israel eingeführt wurde. Von dort sollte es ins englische Wikipedia übernommen werden. Berichte über Palästina in den USA nur noch aus israelischen TV Quellen! Dies ist die Informationsfreiheit, von der imperiale Politiker der Five Eyes träumen (Five Eyes: USA, Großbritannien, Australien Großbritannien, Neuseeland und seit 1967 gehört auch Israel dazu). Die deutschen Politiker werden ebenfalls zum Träumen angeleitet.

Sie wissen nicht, was sie tun, denn die Entwicklung wird, wie einst bei TTIP geplant, geheim gehalten. Und die ahnungslosen deutschen Politiker halten dieses „Neuland“ für supermodern, trendy und nice.

Wir erfahren auch nicht, das das dänische Sozialsystem Kurs aufs Riff genommen hat und Schiffbruch erleidet. Wir sollen es vielleicht nicht wissen. Und die Medien im glücklichsten Land der Welt wollen es auch nicht so richtig wissen – genausowenig wie viele glückliche Dänen selbst. Einzelne korrupte Personen, Beamte und Outsourcing-Spezialisten aufdecken, das wäre ja noch okay. Individuelles Fehlverhalten. Jaja, der Mensch!  Aber ein korruptes Sozialsystem in Frage stellen? Das wäre ein große Nummer. Muss das sein?

Da macht man doch lieber die Augen zu und findet es weiter gemütlich. Denn krank und arbeitsunfähig werden ja nur die Anderen.

Auch das Versagen der Medien in der Berichterstattung über die Fehler im System ist selbst ein Fehler im System. Die Möglichkeiten der Elektronik werden nur genutzt, um die Geschäftsmodelle und Gewinn-Erwartungen zu stärken, und nicht um die Informationslage und Qualität der Öffentlichkeit zu verbessern.

Wem nützt das eigentlich? Wäre es nicht höchste Zeit für eine alternative europäische Öffentlichkeit, die sich auch mit solchen Strukturproblemen beschäftigt? Ich wette: Dänemark ist überall.

Es ist was faul im Staate Dänemark

Im Jahr 2016 war Dänemark das glücklichste Land der Welt. Nirgendwo sonst auf diesem Planeten sind die Menschen so zufrieden mit ihrem Leben wie unsere nördlichen Nachbarn..

Von Published On: 20. Januar 2020Kategorien: Geopolitik, Gesellschaft & Geschichte

Dieser Text wurde zuerst am 14.01.2020 auf www.KenFM.de unter der URL <https://kenfm.de/tagesdosis-14-1-2020-es-ist-etwas-faul-im-staate-daenemark-podcast/> veröffentlicht. Lizenz: ©KenFM/Dirk Pohlmann

Foto: Constantin Hansen, Slottet Kronborg, 1834, Statens Museum for Kunst. Wikimedia Commons

Im Jahr 2018 lag Dänemark mit seinen 5 einhalb Millionen Einwohnern noch auf Platz zwei. Überhaupt sind die Nordeuropäer sehr zufrieden. Auf den ersten vier Plätzen des Glücksindex wechseln sich Finnland, Dänemark, Norwegen und Island ab – und auch Schweden liegt auf Platz sieben. Dazwischen sind Holland und die Schweiz. Der Rest der Welt kommt danach. Fazit: Es geht den Leuten gut in Skandinavien. Das liegt am hohen Einkommen, einer langen Lebenserwartung und gut funktionierenden Sozialleistungen. Korruption ist in Skandinavien kein Problem, auch dort belegen die Länder Spitzenplätze. Heißt es.

Trotzdem sind Jeanette Strauss, Per X und Bitten Jensen alles andere als glückliche Dänen. Sie sind in die Mühlen eines zunehmend privatisierten Sozialstaats geraten. Sie sind Opfer eines unerkannten gesamteuropäischen Trends geworden.

Auch in Dänemark begann Anfang des Jahrtausends ein Umbau der Gesellschaft im Sinne des Markradikalismus. Weniger Staat, mehr Netto vom Brutto und agile, private Unternehmen statt staatlicher Dinosaurier, das waren die Verheißungen der schönen, neuen neoliberalen Welt made in Europe. Toni Blair überholte Margaret Thatcher so scharf rechts, dass die eiserne Lady „New Labour“ als den größten Erfolg ihrer Regierungzeit bezeichnete.  In Deutschland waren es Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die den „Nixon-Effekt“ nutzten. Er heißt so, weil es ausgerechnet Richard Nixon war, ein Kommunistenfresser der McCarthy Ära, der Beziehungen zu China aufnahm. Er konnte das, weil ihm niemand unterstellte, zu weich und unachtsam gegenüber den bösen Commies zu sein, wie man es z.B. John F. Kennedy vorgeworfen hatte.

Aus derselben Logik heraus war es auch den „New Labour“-Deutschen Schröder und Fischer möglich, das soziale Netz der Arbeiter rabiat zusammenzukürzen und das Geld in die Taschen der Besitzenden umzuleiten. Irgendwie wollte es ihnen niemand so richtig zutrauen, was sie tatsächlich taten. In Deutschland wurde die Agenda 2010 aufgesetzt, und Peter Hartz wurde zum Namensgeber einer Reform, die der SPD später eine Erosion ihrer Wählerschaft bescherte. Mittlerweile ist die ehrwürdige Partei auf dem Weg in die Einstelligkeit, nicht zuletzt wegen Hartz 4.
Auch die traditionell sozialdemokratischen Gesellschaften Skandinaviens wurden modernisiert, wie man das damals nannte. Um Kosten zu sparen.

Jeanette Strauss war eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern. Ihre 14jährige Tochter Frida hatte gerade (wie die Hälfte aller Schüler ihrer Schule) einen Schulverweis wegen Rauchens erhalten.

Dann wurde Jeanette Strauss von einem Moment auf den anderen gekündigt, was im supersozialen Dänemark durchaus möglich ist – unrechtmäßig, wie sich später herausstellte. Sie hatte mit ihrem geringen Einkommen weitgehend von der Hand in den Mund gelebt und wusste nicht, wie sie ohne Lohn die Miete zahlen sollte. Also ging sie zur Gemeinde und bat um Hilfe, um einen rückzahlbaren Kredit für ein paar Monate, irgendeine Unterstützung – etwas, das ihr aus der bevorstehenden Zwickmühle helfen würde. Sie bekam keine Hilfe.

Stattdessen entschieden die Mitarbeiter der Kommune Frederiksberg nach 20 Minuten Gespräch, Jeanette Strauss ihre Kinder wegzunehmen. Frida Strauss wurde in einen Raum geführt, wo man ihr sagte, sie solle sich einen betreute Wohnung aussuchen, wo sie ein paar Wochen auf ihre Mutter warten würde können, bis diese sich beruhigt habe. Dass ihre Mutter das so wolle. Eine Lüge. Frida wollte nicht weg von ihrer Mutter, aber sie durfte sie nicht mehr sehen. Die Gemeinde behauptete, Jeanette Strauss habe der Wegnahme ihrer Tochter zugestimmt.

Jeanette Strauss konnte nicht glauben, was ihr da passierte, sie wurde wütend, weinte und beschimpfte die Gemeindemitarbeiter. Ihre Verzweiflung wurde gegen sie verwendet, als Beleg, dass sie nicht für ihre Tochter sorgen könne und psychologische Behandlung brauche. Die wurde ihr aufgezwungen. Das ging so mehrere Jahre, bis 2019, bis auch offiziell zugegeben wurde, dass es sich um einen Fehler außerhalb jeglicher geltenden Gesetze handelte. Mittlerweile war Jeanette Strauss arbeitsunfähig geworden, ihre Tochter hatte unter der Obhut der Betreuer der Gemeinde Alkoholprobleme entwickelt und verwahrloste. Die Familie war zerstört und zum Sozialfall geworden. Inzwischen ist Frida Strauss volljährig, auf einem guten Weg und streitet für sich und die Rechte ihre Mutter.

 


Jeanette Strauss verliest bei einer Stadtratssitzung im Rathaus von Frederiksberg einen Brief an die Politiker, den Frida an den „Ombudsmann“ geschickt hatte. Frida bekam nie eine Antwort. Hinter ihr steht Frida Strauss, im Vordergrund unten Bitten Vivi Jensen. (Quelle: Leben über Recht: „Gemeinde Frederiksberg zerschlägt ganze Familie“. 04/28/2018. YouTube-Screenshot.)

Es ist nach wie vor besonders schockierend, dass Jeanette und Frida jahrelang gegen Windmühlen kämpften, ohne die Aussicht, ein juristisches Verfahren anstrengen zu können, dass schnell Abhilfe schaffen könnte. Ihre Situation war kafkaesk, zum Verweifeln. Und sie sind verzweifelt.
Neben einer fiktiven Welt des Rechtsstaates und der Gesetze gab es die Realität einer Maßnahmenwelt, gegen die sie nicht ankamen.

Per X war Bootsbauer und hatte seit seinem 13. Lebensjahr ohne Unterbrechung gearbeitet. Er leidet an einer seltenen genetischen Krankheit, bei der Muttermale seine Nerven und Organe angreifen. Nur etwa 150 Menschen weltweit leiden darunter. Diese Krankheit wurde schließlich anhand von Gewebeproben von einem deutschen Universitätsprofessor diagnostiziert. Aber das wusste Per X damals noch nicht. Er merkte nur, dass es ihm immer schlechter ging. Er meldete sich krank mit den Symptomen Schmerzen in den Muskeln des linken Beines, Armes, starke Kopfschmerzen und Abgeschlagenheit. Er wurde arbeitsunfähig. Nach einiger Zeit wurde ihm die Unterstützung gestrichen.

Per wurde depressiv, er wusste nicht, wie er seine Familie ernähren sollte. Er wurde deshalb in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Eine Angestellte seiner Gemeinde versuchte ihn entsprechend ihrer Vorgaben zu Zeitarbeit einzuteilen, um seine Arbeitskraft zur Erstattung der Kosten einsetzen zu können, die er verursachte. Auf seiner elektronischen Datei im „Jobcenter“ entdeckte er, dass er angeblich 390 Stunden psychologische Behandlung erhalten hatte, die abgerechnet worden waren. Aber er war keine einzige Minute in Behandlung gewesen. Hier war wohl eine Menge Geld in einem schwarzen Loch verschwunden. Aber wer war das schwarze Loch?

Per las in Facebook von einem ähnlichen Fall. Er nahm Kontakt mit dem Betroffenen auf. Gemeinsam fanden die beiden weitere Personen mit ähnlichen Vorkommnissen. Sie vermuten, dass sich einzelne Kommunen auf diese Weise betrügerisch aus den Steuern bedienen.

Der Betrug durch Empfänger von Sozialleistungen, der mit der Privatisierung verhindert werden sollte, ist offenbar strukturell organisiert. Es gibt geschäftstüchtige „Unternehmer“, die sich das System zu nutze machen, um ordentlich abzusahnen.

So ist ein ganzer Industriezweig entstanden, der sich darum kümmert, Kranke und Behinderte in Zeitarbeitsverträge zu bekommen. Jeder wird untersucht, ob er noch arbeitsfähig ist, sogar Krebskranke oder Hochbetagte. Die Personen arbeiten dann für Transferleistungen. So haben sich Unternehmen ein Heer von Sklavenarbeitern geschaffen, dass sie ausbeuten können und die Kommunen verdienen an den Transferleistungen.
Es ist nicht verwunderlich, dass der Wille zum Betrug nicht nur bei Arbeitslosen besteht, sondern erst recht in einem Wirtschaftssystem, dass Billig-Lohnarbeit als Geschäftsmodell betrachtet.

Auch wenn uns die Protagonisten dieses Wirtschaftssystems einreden wollen, dass der Fehler im System immer der Mensch ist. Das System ist perfekt!

Per ist kein Einzelfall. Über Facebook hatte sich eine Sozialarbeiterin, Bitten Jensen an die Öffentlichkeit gewendet, weil die Medien, die sie angesprochen hatte, nicht berichten wollten.

Sie hatte mehr als 90 Fälle dieser Art, in die sie involviert war, zusammengetragen und anonymisiert veröffentlicht. Sie spricht davon, dass es im Sozialsystem um Geld gehe, nicht mehr darum, den Menschen zu helfen, die in Notlagen geraten sind. Sie war so entsetzt von der flächendeckenden Unmenschlichkeit und dem Missbrauch der Menschen in Notlagen, dass sie Akten mit nach Hause nahm, um sie zu veröffentlichen. Bitten Jensen bewies damit, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um eine Struktur, um einen Fehler im System, um ein fehlerhaftes System.

 

Der dänische Staat reagierte sofort auf ihre Enthüllungen. Am 29. Januar 2020 soll sie vor Gericht eine Haftstrafe wegen der unerlaubten Veröffentlichung von vertraulichen Daten erhalten. Das System, mit dem sich so gut Geld aus den Steuern veruntreuen lässt, bleibt unangetastet. Vorerst.

Offenbar hat niemand vor, sich damit zu beschäftigen, dass sich die angebliche Lösung eines Kostenproblems, die Modernisierung und Privatisierung von Sozialleistungen, zu einem größeren Problem entwickelt hat. Das ursprüngliche Problem war eine angebliche Kostensteigerung, die es zumindest in Deutschland so gar nicht gegeben hat – obwohl davon ständig die Rede ist.
Man hat das System des sozialen Netzes in ein Geschäftsmodell für skrupellose Cleverles verwandelt, die sich jetzt die Taschen füllen. Auf Kosten der Armen, Schwachen und Kranken. Da ist was faul im Staate Dänemark.

Wie ist das eigentlich in Deutschland? Ist Dänemark unsere Zukunft? Wie viel Dänemark steckt im deutschen Sozial-system? Und warum wissen wir nichts von den dänischen Verhältnissen?

Es wäre sicherlich sinnvoll, wenn es europäische Medien gäbe, die sich damit beschäftigten, was in anderen Ländern los ist. Die europäischen Medien enden in ihren Rechercheanstrengungen in den meisten Fällen an den Landesgrenzen. Wir wissen herzlich wenig darüber, was in der EU so alles passiert, was andere besser oder schlechter machen als wir. Wir lernen nicht voneinander. Es gibt keine europäische Öffentlichkeit. Wir hören nur von Brüssel. Und das hat einen schlechten Ruf.

Europa ist ein großes, schwarzes Informationsloch.

Wir wissen z.B. nicht, dass das in Deutschland seit zwei Jahren geplante Wahrheitsministerium bestehend aus Wikipedia und den öffentlich rechtlichen Sendern, welches – unter Ausschluss der Öffentlichkeit –  langsam Gestalt annimmt, bereits in Israel eingeführt wurde. Von dort sollte es ins englische Wikipedia übernommen werden. Berichte über Palästina in den USA nur noch aus israelischen TV Quellen! Dies ist die Informationsfreiheit, von der imperiale Politiker der Five Eyes träumen (Five Eyes: USA, Großbritannien, Australien Großbritannien, Neuseeland und seit 1967 gehört auch Israel dazu). Die deutschen Politiker werden ebenfalls zum Träumen angeleitet.

Sie wissen nicht, was sie tun, denn die Entwicklung wird, wie einst bei TTIP geplant, geheim gehalten. Und die ahnungslosen deutschen Politiker halten dieses „Neuland“ für supermodern, trendy und nice.

Wir erfahren auch nicht, das das dänische Sozialsystem Kurs aufs Riff genommen hat und Schiffbruch erleidet. Wir sollen es vielleicht nicht wissen. Und die Medien im glücklichsten Land der Welt wollen es auch nicht so richtig wissen – genausowenig wie viele glückliche Dänen selbst. Einzelne korrupte Personen, Beamte und Outsourcing-Spezialisten aufdecken, das wäre ja noch okay. Individuelles Fehlverhalten. Jaja, der Mensch!  Aber ein korruptes Sozialsystem in Frage stellen? Das wäre ein große Nummer. Muss das sein?

Da macht man doch lieber die Augen zu und findet es weiter gemütlich. Denn krank und arbeitsunfähig werden ja nur die Anderen.

Auch das Versagen der Medien in der Berichterstattung über die Fehler im System ist selbst ein Fehler im System. Die Möglichkeiten der Elektronik werden nur genutzt, um die Geschäftsmodelle und Gewinn-Erwartungen zu stärken, und nicht um die Informationslage und Qualität der Öffentlichkeit zu verbessern.

Wem nützt das eigentlich? Wäre es nicht höchste Zeit für eine alternative europäische Öffentlichkeit, die sich auch mit solchen Strukturproblemen beschäftigt? Ich wette: Dänemark ist überall.