Im Interview: John Shipton

„Mord durch Gerichtsverfahren“

John Shipton, der Vater des inhaftierten Wikileaksgründers Julian Assange, erklärt im Interview, wie es seinem Sohn im Gefängnis geht und wie gnadenlos Julian von seinen Gegnern verfolgt wird.

Von Published On: 11. Dezember 2019Kategorien: Medien & Technik

Dieser Text wurde zuerst am 15.09.2020 auf www.KenFM.de unter der URL https://kenfm.de/missing-link-to-john-shipton/ veröffentlicht. Lizenz: Dirk Pohlmann, KenFM.de, CC BY-NC-ND 4.0

John Shipton im Interview mit Dirk Pohlmann für „The missing Link“ auf KenFM.de (Foto: Screenshot während des Interviews, Quelle: KenFM.de, https://youtu.be/22iED5VPX4g)

DP: Herr Shipton, in welchem Zustand ist ihr Sohn Julian jetzt? Wie geht es ihm? Es muss ihnen schwer fallen, darüber zu sprechen, aber bitte tun sie es.

HS: Julians Zustand ist furchtbar. Nils Melzer, der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter, hat gesagt, falls das Auslieferungsverfahren drei Jahre dauern wird, wovon auszugehen ist, dann ist Julians Leben in Gefahr. Er könnte vorher sterben. Als Beobachter, der nur von außen zusehen kann, nenne ich das Mord durch Gerichtsverfahren. Er wird jetzt seit 2010 bis zu diesem Moment in dem wir sprechen, juristisch verfolgt. Auch jetzt in dieser Minute, geht diese Verfolgung weiter. Er ist in einer Gefängniszelle, die 2 × 3 m groß ist. Das beste, was er in dieser Situation tun kann, ist herum zu gehen, die Schritte zu zählen, und sich vorzustellen, dass er von Paris nach Berlin geht. Die Schritte zu zählen. damit er nicht verrückt wird. Jetzt in diesem Moment, darf er seinen Computer und seine Unterlagen nicht benutzen. Jetzt in dieser Minute läuft ein Gerichtsverfahren in Spanien wegen der illegalen Überwachung von Julian in der ecuadorianischen Botschaft. Er wird verfolgt, weil er wahre Tatsachen berichtet hat.

DP: Sie waren gestern bei der Anhörung im Bundestag. Welchen Eindruck haben sie von den Parteien gewonnen? Was war das wichtigste Thema während und nach der Anhörung?

HS: Die Gespräche nach der Anhörung drehten sich vor allem darum, dass es überraschend und enttäuschend war, dass die Grünen kein Parlamentsmitglied, nicht einmal einen wissenschaftlichen Mitarbeiter zu der Anhörung gesandt hatten. Dazu hat an diesem Abend eigentlich jeder etwas gesagt, mit dem ich gesprochen habe. Auch die anderen Parteien waren abwesend. Das andere wichtige Thema war, wie groß die Unterstützung andererseits besonders in Berlin in der Bevölkerung ist, aber auch in Deutschland ganz allgemein. Die Unterstützung in der Bevölkerung wächst offenbar. Es gibt einige wirklich bedeutende Unterstützer, aber es scheint sich, wenn ich das so sagen darf, ein historisches Phänomen zu entwickeln in der Bevölkerung, da kommeneinige Aspekte zusammen, Julian Assange, Fake News, der Neoliberalismus. All diese Elemente, die zu sozialen Brüchen führen, sozialen und politischen Brüchen, dazu gehört auch das Anwachsen der AfD und dass angebliche Anti-Establishment-Figuren, die in Wirklichkeit zum Estab­lishment gehören, wie Boris Johnson, viel Zuspruch erhalten, oder Darsteller wie Donald Trump, die bemerkt haben, dass sich in der Bevölkerung ein historischer Wandel abzeichnet und die diese Welle reiten, auf ihr surfen. Auch das ist ein Anzeichen, dass etwas im Umbruch ist.

DP: Wenn jemand den Bürgern der DDR, die vor 30 Jahre dachten, jetzt sei das Zeitalter der Freiheit angebrochen, damals die Geschichte von Julian Assanges Verfolgung erzählt hätte, dann wäre die Reaktion wohl etwas gewesen, dass man Ent-Täuschung nennen könnte, ein Einbruch der Realität in das Wunschdenken. War auch das  Spannungsverhältnis zwischen dem Mauerfall und der Verfolgung Julian Assanges ein Thema bei der Anhörung?

HS: Ja. Einige der Teilnehmer an der Anhörung waren ehemalige DDR-Bürger und sie verglichen zwischen Honeckers DDR und der gegenwärtigen Repression und den dazugehörigen Fake News. Sie sagten, so war das bei Honecker und so ist es jetzt. Sie haben es verglichen. Aber besonders in den angelsächsischen Ländern, in den englischsprachigen Ländern ist das Bewusstsein über die Situation schlechter. In der englisch sprechenden Welt sind die Medien gleichförmig, so dass solche Gedanken nicht aufkommen. Artikel aus der New York Times werden in anderen Zeitungen verbreitet, Artikel aus der Washington Post erscheinen in Australien, in englischen Zeitungen, in neuseeländischen Zeitungen und in kanadischen Zeitungen. Überall die gleichen Artikel mit der gleichen Ausrichtung.

DP: Ich beschäftige mich jetzt ungefähr 20 Jahre mit Geheimdienstoperatio­nen. Wenn ich über die Interessen des Imperiums nachdenke – ich nenne das mein geheimdienstverseuchtes Gehirn zu benutzen – deswegen verstehe ich, warum Julian Assange so gefährlich ist, wenn man ihn aus der Perspektive des Imperiums betrachtet. Wenn man seine Arbeit aus der Perspektive der Demokratie betrachtet, hat er eine unglaubliche Leistung vollbracht.  Wikileaks  war eine der wichtigsten Verbesserungen im Journalismus, die es bisher gegeben hat. Eine Art Nachrichtenagentur der unterdrückten Wahrheiten, ein qualitativer Sprung für den Journalismus. Eine Chance oder eine Gefahr, je nachdem ob man Demokrat oder Machiavellist ist. Man könnte auch sagen, die Reaktion auf Julian Assange und Wikileaks ist ein Lackmustest, in welche Richtung sich die westlichen Gesellschaften entwickeln. Wenn man die Gelegenheit der Friedensdividende so verwendet, wie es jetzt getan wird, dann ist die Entwicklungsrichtung des sogenannten freien Westens eher sowjetisch, sozusagen. Wie sehen sie das?

HS: Ich beobachte, dass wir die Friedensdividende für Waffen ausgegeben haben. Unter geopolitischen Aspekten kann man sagen, dass das amerikanische Imperium seine militärische Überlegenheit an die Russische Föderation verloren hat. Man kann auch sagen, dass das amerikanische Imperium seine wirtschaftliche Überlegenheit verloren hat, in diesem Fall an die Chinesen. Deswegen  zittert und wackelt das amerikanische Imperium, deswegen versucht es sich an allem fest zu klammern, was es noch dominieren kann. Und deswegen ist es sehr wichtig für Europa, darauf zu achten, zuverlässige und ungetrübte Informationsquellen wie Wikileaks zu besitzen, weil die Amerikaner ihr Imperium mit allen Mitteln verteidigen werden.

DP: Meinen sie auch, dass Wikileaks eine große Veränderung und damit eine große Bedrohung für das amerikanische Imperium ist und deswegen so erbarmungslos bekämpft wird?

HS: Ja, ja. Wenn das Imperium nicht in solcher Gefahr wäre, würde es sich anders verhalten. Es ist heute in einer anderen Situation als in den sechziger Jahren, anders als zur Zeit der Pentagon Papers; wäre es genauso stark wie damals, würde das Imperium Wikileaks ertragen. Aber jetzt erträgt es Wikileaks nicht. Jetzt fürchtet das Imperium um seine Zukunft. Und das zu Recht. Es hat seine militärische Überlegenheit eingebüßt und es hat seine wirtschaftliche Überlegenheit eingebüßt. Das Verhalten der USA gegenüber Russland und China hat Russland und China obendrein noch dazu gebracht, eine strategische Koalition einzugehen.

DP: Wenn ich an den Film „Die Unbestechlichen“ denke, also an die Watergate Affäre, das war doch ein großer Mythos des Westens, die Selbstreinigung der Demokratie durch investigative Journalisten, die Machtmissbrauch aufdecken und die Mächtigen kontrollieren. Jetzt, wo es so jemand tatsächlich gibt, Julian Assange, verstecken sich all seine Kollegen im Gebüsch und hoffen nicht entdeckt zu werden und ohne Schaden davon zu kommen. Wie sehen sie das, sie sind älter als ich, haben mehr Erfahrung, täusche ich mich, oder hatten die Journalisten in den siebziger Jahren tatsächlich eine ganz andere Haltung als heute?

HS: Ja, sie hatten eine ganz andere Haltung. Es gab deutlich mehr Meinungsvielfalt unter den Journalisten, ich habe die Evergreen Review gelesen, ein Monatsmagazin, das wirklich gut recherchierte Artikel veröffentlichte. Vor einiger Zeit war ich zu Besuch bei John Pilger, dem berühmten australischen Dokumentarfilmer, ich sprach mit ihm über dieses Thema und sagte, war es nicht vielleicht schon immer so übel wie heute? Und er sagte: Nein, und zeigte mir die Titelseite einer alten Ausgabe des Daily Mirror, zeigte mir einen Artikel, den er während des Viet­namkrieges geschrieben hatte. Die Titelgeschichte handelte von einer schrecklichen Tragödie, die angerichtet worden war, Mỹ Lai. In der Zeitung waren sechs ganze Seiten mit Fotografien und Text, ein Bericht, was in Vietnam geschehen war, ein entsetzlicher Massenmord. Wo würde so etwas heute veröffentlicht werden? Sechs Seiten über imperiale Verbrechen der USA in Syrien? Wäre das heute noch möglich?

DP: Ich glaube, diese Entwicklung hat auch damit zu tun, dass es jetzt immer mehr ums Geld geht im Journalismus, um die Rendite der Verlage. Der Journalismus wird heute von Betriebswirtschaftlern organisiert, er unterliegt Profitforderungen. Die Regeln der Pressearbeit werden weniger von Journalisten bestimmt. Die neoliberale Wirtschaftsweise und die damit verbundenen politischen Sichtweisen beherrschen jetzt alle Bereiche. Auch den Journalismus, der früher tatsächlich eigene Regeln hatte, man könnte sogar sagen, eine eigene Ethik, auch wenn das etwas übertrieben ist. Aber diese schwach ausgeprägte Ethik wurde dann komplett von Geschäftsinteressen überlagert. Nichtsdestotrotz: alle Journalisten, egal welcher politischen Richtung sie anhängen, sollten begreifen, dass der Angriff auf Julian Assange ein Angriff auf die Pressefreiheit ist. Aber die Reaktion ist merkwürdig schwächlich und verhalten.

HS: Es ist sehr merkwürdig. Ich möchte es noch aus einem etwas anderen Blickwinkel charakterisieren. Die Sicherheit von Journalisten hängt von ihrem Prestige ab. Wenn sie hohes Ansehen genießen, dann überlegt es sich die Regierung zweimal, ob sie die Presse angreift. Wenn der journalistische Berufsstand sich einig ist und solidarisch, dann ist die Regierung sehr zögerlich mit Angriffen auf die Presse. Wenn die Verleger sich einig sind, also die geschäftliche Organisation der Presse, wenn sie ihre Journalisten vor Gericht verteidigen, dann ist die Regierung sehr, sehr vorsichtig damit, die Presse anzugreifen. Aber es scheint so, dass diese vertikale Solidarität von oben nach unten, zwischen den Verlegern, den Chefredakteuren und den Journalisten heute verschwunden ist. Aber das zwingt die Journalisten und ihre Standesorganisa­tion auch, zu begreifen, dass es für sie das Ende bedeutet, wenn Julian Assange so behandelt werden kann. Wenn sie kein Ansehen mehr genießen, dann haben sie auch keinen Schutz mehr.

DP: Gibt es etwas, was wir für Julian tun können? Wir bedeutet nicht nur die Journalisten, sondern jeder von uns. Was ist ihr Rat an alle, die helfen wollen?

HS: Aus meiner Erfahrung, aber ich muss sagen, ich gebe nie Ratschläge, ich sage nur, was für mich funktioniert hat, ich möchte also nur empfehlen, was ich selbst tue, ist Freunde zum Essen einzuladen oder zum Grillen. Und dabei informiere ich sie, was geschieht, mit Julian, aber auch insgesamt. Wir Menschen sind Wesen der Tat. Wenn wir etwas erkannt und verstanden haben, dann handeln wir auch entsprechend. Sich gegenseitig zu informieren, ist der erste, entscheidende Schritt zur Aktivität. Aktivität ist das natürliche Ergebnis von Information.

DP: Eine Möglichkeit, über die wir in unserem YouTube Kanal „Das dritte Jahrtausend“ nachgedacht haben, ist, dass Maired McGuire Julian für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen hat. Vielleicht könnte sie sich mit Pamela Anderson zusammentun,  die in Deutschland sehr prominent ist, und gleichzeitig unterschätzt wird. Die meisten Menschen glauben, dass sie einfach eine kurvenreiche TV-Schönheit ist, aber wir haben ihre Artikel gelesen, die hervorragend sind und sehr einfühlsam. Es wäre überraschend und sehr interessant, wenn diese beiden  unterschiedlichen Frauen sich zusammentun würden, es würde Aufmerksamkeit erzeugen. Maired McGuire ist eine Frau, die als katholische Mutter den Friedensnobelpreis gewonnen hat, weil es ihr  mit einer anderen protestantischen Mutter  gelang, dass  gegenseitige Töten der Söhne zu beenden. Alle Kämpfer hatten Mütter. Wir finden diese Kombination sehr interessant, wir glauben, dass es eine aussichtsreiche Kampagne wäre.

HS: Ein Teil davon wird bereits realisiert. Julian wurde von Maired McGuire acht Mal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Das neunte Mal wird sie  Edward Snowden, Chelsea Manning und Julian Assange gemeinsam nominieren. Für das Nobelpreiskomitee wäre eine Entscheidung für die drei die Chance, den Ruf wieder herzustellen, den es mit dem Verleih des  Friedensnobelpreises an einen Kriegsverbrecher beschädigt hat.

DP: Bei dieser Kampagne werden wir mitmachen, auch mit Free21. Halten sie uns auf dem Laufenden.

HS: Die Nominierung wird Ende Januar erfolgen. Wir werden in der betreffenden Woche in Oslo sein. Maired McGuire wird auch nach Oslo kommen. Sie ist großartig. Man kann sie nicht stoppen. Ich habe noch nicht mit Pamela Anderson gesprochen, ob sie mitmachen würde. Aber die Idee ist gut.

DP: Tun Sie es bitte. Aus der Sicht eines Journalisten bedeutet das eine Vervielfachung der Aufmerksamkeit. Im ersten Moment wird zwar jeder an Baywatch denken, aber dann wird man bemerken, dass sie  neben ihren Kurven auch einen außergewöhnlichen Geist besitzt. Sie schreibt als Journalistin nicht nur gut, sondern sehr beeindruckend. Pamela Anderson und Maired McGuire zusammen wären ein eindrucksvolles Team und ich glaube wirklich, dass es funktionieren würde, weil es nicht nur den politischen Journalismus betreffen würde, sondern eine viel breitere Aufmerksamkeit erzeugen könnte.

HS: Ja, sie hat ein sehr gut funktionierendes Gehirn. Ich halte Sie auf dem Laufenden.

DP: Tun Sie das bitte. John Shipton, herzlichen Dank für dieses Interview. Ich möchte es mit einem Zitat beenden, das hier in Berlin vor ungefähr 30 Jahren zu hören war, von Ronald Reagan. Ich werde es etwas abändern: Mister President, dear Mr. Trump. Tear down this prison wall. Free Julian Assange, Chelsea Manning and Edward Snowden.

 

Im Interview: John Shipton

Anti-Kriegsaktivist und Bauunternehmer, ist der leibliche Vater von Julian Assange. Die Mutter von Julian Assange, Christine Ann Hawkins (* 1951), eine bildende Künstlerin, hatte ihn 1970 bei einer Antivietnamkriegdemonstration kennengelernt.

Im Interview: John Shipton

„Mord durch Gerichtsverfahren“

John Shipton, der Vater des inhaftierten Wikileaksgründers Julian Assange, erklärt im Interview, wie es seinem Sohn im Gefängnis geht und wie gnadenlos Julian von seinen Gegnern verfolgt wird.

Von Published On: 11. Dezember 2019Kategorien: Medien & Technik

Dieser Text wurde zuerst am 15.09.2020 auf www.KenFM.de unter der URL https://kenfm.de/missing-link-to-john-shipton/ veröffentlicht. Lizenz: Dirk Pohlmann, KenFM.de, CC BY-NC-ND 4.0

John Shipton im Interview mit Dirk Pohlmann für „The missing Link“ auf KenFM.de (Foto: Screenshot während des Interviews, Quelle: KenFM.de, https://youtu.be/22iED5VPX4g)

DP: Herr Shipton, in welchem Zustand ist ihr Sohn Julian jetzt? Wie geht es ihm? Es muss ihnen schwer fallen, darüber zu sprechen, aber bitte tun sie es.

HS: Julians Zustand ist furchtbar. Nils Melzer, der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter, hat gesagt, falls das Auslieferungsverfahren drei Jahre dauern wird, wovon auszugehen ist, dann ist Julians Leben in Gefahr. Er könnte vorher sterben. Als Beobachter, der nur von außen zusehen kann, nenne ich das Mord durch Gerichtsverfahren. Er wird jetzt seit 2010 bis zu diesem Moment in dem wir sprechen, juristisch verfolgt. Auch jetzt in dieser Minute, geht diese Verfolgung weiter. Er ist in einer Gefängniszelle, die 2 × 3 m groß ist. Das beste, was er in dieser Situation tun kann, ist herum zu gehen, die Schritte zu zählen, und sich vorzustellen, dass er von Paris nach Berlin geht. Die Schritte zu zählen. damit er nicht verrückt wird. Jetzt in diesem Moment, darf er seinen Computer und seine Unterlagen nicht benutzen. Jetzt in dieser Minute läuft ein Gerichtsverfahren in Spanien wegen der illegalen Überwachung von Julian in der ecuadorianischen Botschaft. Er wird verfolgt, weil er wahre Tatsachen berichtet hat.

DP: Sie waren gestern bei der Anhörung im Bundestag. Welchen Eindruck haben sie von den Parteien gewonnen? Was war das wichtigste Thema während und nach der Anhörung?

HS: Die Gespräche nach der Anhörung drehten sich vor allem darum, dass es überraschend und enttäuschend war, dass die Grünen kein Parlamentsmitglied, nicht einmal einen wissenschaftlichen Mitarbeiter zu der Anhörung gesandt hatten. Dazu hat an diesem Abend eigentlich jeder etwas gesagt, mit dem ich gesprochen habe. Auch die anderen Parteien waren abwesend. Das andere wichtige Thema war, wie groß die Unterstützung andererseits besonders in Berlin in der Bevölkerung ist, aber auch in Deutschland ganz allgemein. Die Unterstützung in der Bevölkerung wächst offenbar. Es gibt einige wirklich bedeutende Unterstützer, aber es scheint sich, wenn ich das so sagen darf, ein historisches Phänomen zu entwickeln in der Bevölkerung, da kommeneinige Aspekte zusammen, Julian Assange, Fake News, der Neoliberalismus. All diese Elemente, die zu sozialen Brüchen führen, sozialen und politischen Brüchen, dazu gehört auch das Anwachsen der AfD und dass angebliche Anti-Establishment-Figuren, die in Wirklichkeit zum Estab­lishment gehören, wie Boris Johnson, viel Zuspruch erhalten, oder Darsteller wie Donald Trump, die bemerkt haben, dass sich in der Bevölkerung ein historischer Wandel abzeichnet und die diese Welle reiten, auf ihr surfen. Auch das ist ein Anzeichen, dass etwas im Umbruch ist.

DP: Wenn jemand den Bürgern der DDR, die vor 30 Jahre dachten, jetzt sei das Zeitalter der Freiheit angebrochen, damals die Geschichte von Julian Assanges Verfolgung erzählt hätte, dann wäre die Reaktion wohl etwas gewesen, dass man Ent-Täuschung nennen könnte, ein Einbruch der Realität in das Wunschdenken. War auch das  Spannungsverhältnis zwischen dem Mauerfall und der Verfolgung Julian Assanges ein Thema bei der Anhörung?

HS: Ja. Einige der Teilnehmer an der Anhörung waren ehemalige DDR-Bürger und sie verglichen zwischen Honeckers DDR und der gegenwärtigen Repression und den dazugehörigen Fake News. Sie sagten, so war das bei Honecker und so ist es jetzt. Sie haben es verglichen. Aber besonders in den angelsächsischen Ländern, in den englischsprachigen Ländern ist das Bewusstsein über die Situation schlechter. In der englisch sprechenden Welt sind die Medien gleichförmig, so dass solche Gedanken nicht aufkommen. Artikel aus der New York Times werden in anderen Zeitungen verbreitet, Artikel aus der Washington Post erscheinen in Australien, in englischen Zeitungen, in neuseeländischen Zeitungen und in kanadischen Zeitungen. Überall die gleichen Artikel mit der gleichen Ausrichtung.

DP: Ich beschäftige mich jetzt ungefähr 20 Jahre mit Geheimdienstoperatio­nen. Wenn ich über die Interessen des Imperiums nachdenke – ich nenne das mein geheimdienstverseuchtes Gehirn zu benutzen – deswegen verstehe ich, warum Julian Assange so gefährlich ist, wenn man ihn aus der Perspektive des Imperiums betrachtet. Wenn man seine Arbeit aus der Perspektive der Demokratie betrachtet, hat er eine unglaubliche Leistung vollbracht.  Wikileaks  war eine der wichtigsten Verbesserungen im Journalismus, die es bisher gegeben hat. Eine Art Nachrichtenagentur der unterdrückten Wahrheiten, ein qualitativer Sprung für den Journalismus. Eine Chance oder eine Gefahr, je nachdem ob man Demokrat oder Machiavellist ist. Man könnte auch sagen, die Reaktion auf Julian Assange und Wikileaks ist ein Lackmustest, in welche Richtung sich die westlichen Gesellschaften entwickeln. Wenn man die Gelegenheit der Friedensdividende so verwendet, wie es jetzt getan wird, dann ist die Entwicklungsrichtung des sogenannten freien Westens eher sowjetisch, sozusagen. Wie sehen sie das?

HS: Ich beobachte, dass wir die Friedensdividende für Waffen ausgegeben haben. Unter geopolitischen Aspekten kann man sagen, dass das amerikanische Imperium seine militärische Überlegenheit an die Russische Föderation verloren hat. Man kann auch sagen, dass das amerikanische Imperium seine wirtschaftliche Überlegenheit verloren hat, in diesem Fall an die Chinesen. Deswegen  zittert und wackelt das amerikanische Imperium, deswegen versucht es sich an allem fest zu klammern, was es noch dominieren kann. Und deswegen ist es sehr wichtig für Europa, darauf zu achten, zuverlässige und ungetrübte Informationsquellen wie Wikileaks zu besitzen, weil die Amerikaner ihr Imperium mit allen Mitteln verteidigen werden.

DP: Meinen sie auch, dass Wikileaks eine große Veränderung und damit eine große Bedrohung für das amerikanische Imperium ist und deswegen so erbarmungslos bekämpft wird?

HS: Ja, ja. Wenn das Imperium nicht in solcher Gefahr wäre, würde es sich anders verhalten. Es ist heute in einer anderen Situation als in den sechziger Jahren, anders als zur Zeit der Pentagon Papers; wäre es genauso stark wie damals, würde das Imperium Wikileaks ertragen. Aber jetzt erträgt es Wikileaks nicht. Jetzt fürchtet das Imperium um seine Zukunft. Und das zu Recht. Es hat seine militärische Überlegenheit eingebüßt und es hat seine wirtschaftliche Überlegenheit eingebüßt. Das Verhalten der USA gegenüber Russland und China hat Russland und China obendrein noch dazu gebracht, eine strategische Koalition einzugehen.

DP: Wenn ich an den Film „Die Unbestechlichen“ denke, also an die Watergate Affäre, das war doch ein großer Mythos des Westens, die Selbstreinigung der Demokratie durch investigative Journalisten, die Machtmissbrauch aufdecken und die Mächtigen kontrollieren. Jetzt, wo es so jemand tatsächlich gibt, Julian Assange, verstecken sich all seine Kollegen im Gebüsch und hoffen nicht entdeckt zu werden und ohne Schaden davon zu kommen. Wie sehen sie das, sie sind älter als ich, haben mehr Erfahrung, täusche ich mich, oder hatten die Journalisten in den siebziger Jahren tatsächlich eine ganz andere Haltung als heute?

HS: Ja, sie hatten eine ganz andere Haltung. Es gab deutlich mehr Meinungsvielfalt unter den Journalisten, ich habe die Evergreen Review gelesen, ein Monatsmagazin, das wirklich gut recherchierte Artikel veröffentlichte. Vor einiger Zeit war ich zu Besuch bei John Pilger, dem berühmten australischen Dokumentarfilmer, ich sprach mit ihm über dieses Thema und sagte, war es nicht vielleicht schon immer so übel wie heute? Und er sagte: Nein, und zeigte mir die Titelseite einer alten Ausgabe des Daily Mirror, zeigte mir einen Artikel, den er während des Viet­namkrieges geschrieben hatte. Die Titelgeschichte handelte von einer schrecklichen Tragödie, die angerichtet worden war, Mỹ Lai. In der Zeitung waren sechs ganze Seiten mit Fotografien und Text, ein Bericht, was in Vietnam geschehen war, ein entsetzlicher Massenmord. Wo würde so etwas heute veröffentlicht werden? Sechs Seiten über imperiale Verbrechen der USA in Syrien? Wäre das heute noch möglich?

DP: Ich glaube, diese Entwicklung hat auch damit zu tun, dass es jetzt immer mehr ums Geld geht im Journalismus, um die Rendite der Verlage. Der Journalismus wird heute von Betriebswirtschaftlern organisiert, er unterliegt Profitforderungen. Die Regeln der Pressearbeit werden weniger von Journalisten bestimmt. Die neoliberale Wirtschaftsweise und die damit verbundenen politischen Sichtweisen beherrschen jetzt alle Bereiche. Auch den Journalismus, der früher tatsächlich eigene Regeln hatte, man könnte sogar sagen, eine eigene Ethik, auch wenn das etwas übertrieben ist. Aber diese schwach ausgeprägte Ethik wurde dann komplett von Geschäftsinteressen überlagert. Nichtsdestotrotz: alle Journalisten, egal welcher politischen Richtung sie anhängen, sollten begreifen, dass der Angriff auf Julian Assange ein Angriff auf die Pressefreiheit ist. Aber die Reaktion ist merkwürdig schwächlich und verhalten.

HS: Es ist sehr merkwürdig. Ich möchte es noch aus einem etwas anderen Blickwinkel charakterisieren. Die Sicherheit von Journalisten hängt von ihrem Prestige ab. Wenn sie hohes Ansehen genießen, dann überlegt es sich die Regierung zweimal, ob sie die Presse angreift. Wenn der journalistische Berufsstand sich einig ist und solidarisch, dann ist die Regierung sehr zögerlich mit Angriffen auf die Presse. Wenn die Verleger sich einig sind, also die geschäftliche Organisation der Presse, wenn sie ihre Journalisten vor Gericht verteidigen, dann ist die Regierung sehr, sehr vorsichtig damit, die Presse anzugreifen. Aber es scheint so, dass diese vertikale Solidarität von oben nach unten, zwischen den Verlegern, den Chefredakteuren und den Journalisten heute verschwunden ist. Aber das zwingt die Journalisten und ihre Standesorganisa­tion auch, zu begreifen, dass es für sie das Ende bedeutet, wenn Julian Assange so behandelt werden kann. Wenn sie kein Ansehen mehr genießen, dann haben sie auch keinen Schutz mehr.

DP: Gibt es etwas, was wir für Julian tun können? Wir bedeutet nicht nur die Journalisten, sondern jeder von uns. Was ist ihr Rat an alle, die helfen wollen?

HS: Aus meiner Erfahrung, aber ich muss sagen, ich gebe nie Ratschläge, ich sage nur, was für mich funktioniert hat, ich möchte also nur empfehlen, was ich selbst tue, ist Freunde zum Essen einzuladen oder zum Grillen. Und dabei informiere ich sie, was geschieht, mit Julian, aber auch insgesamt. Wir Menschen sind Wesen der Tat. Wenn wir etwas erkannt und verstanden haben, dann handeln wir auch entsprechend. Sich gegenseitig zu informieren, ist der erste, entscheidende Schritt zur Aktivität. Aktivität ist das natürliche Ergebnis von Information.

DP: Eine Möglichkeit, über die wir in unserem YouTube Kanal „Das dritte Jahrtausend“ nachgedacht haben, ist, dass Maired McGuire Julian für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen hat. Vielleicht könnte sie sich mit Pamela Anderson zusammentun,  die in Deutschland sehr prominent ist, und gleichzeitig unterschätzt wird. Die meisten Menschen glauben, dass sie einfach eine kurvenreiche TV-Schönheit ist, aber wir haben ihre Artikel gelesen, die hervorragend sind und sehr einfühlsam. Es wäre überraschend und sehr interessant, wenn diese beiden  unterschiedlichen Frauen sich zusammentun würden, es würde Aufmerksamkeit erzeugen. Maired McGuire ist eine Frau, die als katholische Mutter den Friedensnobelpreis gewonnen hat, weil es ihr  mit einer anderen protestantischen Mutter  gelang, dass  gegenseitige Töten der Söhne zu beenden. Alle Kämpfer hatten Mütter. Wir finden diese Kombination sehr interessant, wir glauben, dass es eine aussichtsreiche Kampagne wäre.

HS: Ein Teil davon wird bereits realisiert. Julian wurde von Maired McGuire acht Mal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Das neunte Mal wird sie  Edward Snowden, Chelsea Manning und Julian Assange gemeinsam nominieren. Für das Nobelpreiskomitee wäre eine Entscheidung für die drei die Chance, den Ruf wieder herzustellen, den es mit dem Verleih des  Friedensnobelpreises an einen Kriegsverbrecher beschädigt hat.

DP: Bei dieser Kampagne werden wir mitmachen, auch mit Free21. Halten sie uns auf dem Laufenden.

HS: Die Nominierung wird Ende Januar erfolgen. Wir werden in der betreffenden Woche in Oslo sein. Maired McGuire wird auch nach Oslo kommen. Sie ist großartig. Man kann sie nicht stoppen. Ich habe noch nicht mit Pamela Anderson gesprochen, ob sie mitmachen würde. Aber die Idee ist gut.

DP: Tun Sie es bitte. Aus der Sicht eines Journalisten bedeutet das eine Vervielfachung der Aufmerksamkeit. Im ersten Moment wird zwar jeder an Baywatch denken, aber dann wird man bemerken, dass sie  neben ihren Kurven auch einen außergewöhnlichen Geist besitzt. Sie schreibt als Journalistin nicht nur gut, sondern sehr beeindruckend. Pamela Anderson und Maired McGuire zusammen wären ein eindrucksvolles Team und ich glaube wirklich, dass es funktionieren würde, weil es nicht nur den politischen Journalismus betreffen würde, sondern eine viel breitere Aufmerksamkeit erzeugen könnte.

HS: Ja, sie hat ein sehr gut funktionierendes Gehirn. Ich halte Sie auf dem Laufenden.

DP: Tun Sie das bitte. John Shipton, herzlichen Dank für dieses Interview. Ich möchte es mit einem Zitat beenden, das hier in Berlin vor ungefähr 30 Jahren zu hören war, von Ronald Reagan. Ich werde es etwas abändern: Mister President, dear Mr. Trump. Tear down this prison wall. Free Julian Assange, Chelsea Manning and Edward Snowden.

 

Im Interview: John Shipton

Anti-Kriegsaktivist und Bauunternehmer, ist der leibliche Vater von Julian Assange. Die Mutter von Julian Assange, Christine Ann Hawkins (* 1951), eine bildende Künstlerin, hatte ihn 1970 bei einer Antivietnamkriegdemonstration kennengelernt.