Sanktionen:

Reise in ein bestraftes Land

Von Published On: 2. Dezember 2016Kategorien: Allgemein

Schon im Frühjahr diesen Jahres − 2016 − haben mein Mann und ich beschlossen, nach Russland und von dort auf die Krim zu reisen. Angesichts der einseitigen Berichterstattung über Russland hielten wir es für einen Akt zur Rettung des gesunden Menschenverstandes, selbst in dieses Land zu fahren und uns ein eigenes Bild zu machen. Dabei wollten wir auch die Vorwürfe überprüfen, mit denen die weitreichenden Sanktionen gegen Russland begründet werden.

 

Auf unserer Reise bekamen wir ein ungefähres Bild davon, wen die Sanktionen wirklich treffen. Die westlichen Global Player wie Starbucks, McDonalds oder VW machen ihre Geschäfte weiter. Die russische Industrie wendet sich nach Indien und China, die Tourismusindustrie tut das auf jeden Fall, was in den touristischen Hochburgen von Petersburg − „Eremitage“ und „Zarskoje Selo“ − unschwer zu erkennen ist. Leidtragende der Sanktionen sind vor allem die ärmeren Schichten der Bevölkerung, denn sie bekommen den Werteverlust des Rubels, der sich zu einem großen Teil durch die Sanktionen begründet, empfindlich zu spüren. Rentner, deren monatliches Einkommen von umgerechnet 300 Euro auf umgerechnet 200 Euro gesunken ist, zum Beispiel. Nicht der Multimillionär Putin leidet unter den Sanktionen der „internationalen Wertegemeinschaft“. Geringverdiener und kinderreiche Familien werden bestraft. Aber wofür eigentlich?

 

Gesegnete Reise – die russische Kirche und Gedanken über Pussy Riot

St. Petersburg empfängt uns mit strömendem Regen und so zieht es uns schon am ersten Abend in eine der beeindruckenden Kirchen der Stadt. In der Wladimir-Kathedrale erleben wir einen russisch-orthodoxen Gottesdienst. Das heißt, die Gläubigen betreten jeder für sich den Gebetsraum, gehen von Ikone zu Ikone, um sich vor ihr zu bekreuzigen oder sie zu küssen, ein Priester tritt aus einem Lettner heraus, um Gebete zu singen, die von einem Chor auf einem Balkon gegenüber mit beeindruckendem Gesang erwidert werden. Nicht die Gläubigen kommen zum Priester, um sich weihen zu lassen, der Priester kommt zu den Gläubigen, schwenkt seine Weihrauchkanne und bedenkt sie mit einem offenen, ernsten Blick. Auch wir werden auf diese Weise gesegnet, obwohl wir weder beten noch Kreuze schlagen.

 

Die Atmosphäre ist feierlich, das Wort „sakral“ gewinnt hier seine Bedeutung. Tief beeindruckt von der Hingabe der Gläubigen und den wunderschönen Gesängen verlassen wir nach einer halben Stunde die Wladimir-Kathedrale.

 

Auf der Straße fällt uns beiden dieselbe Frage ein: Was wäre, wenn in diesen Gottesdienst halbnackte Frauen hereingesprungen wären und Parolen gegen Putin gebrüllt hätten? Ich kann die Empörung russischer Gläubiger über einen solchen Akt der Entweihung fast körperlich nachvollziehen.

 

Dabei ist mir das Schlimmste noch nicht bewusst. In den nächsten Tagen in St. Petersburg lernen wir, was stalinistische und kommunistische Herrschaft für das religiöse Leben in Russland bedeuteten. Mir war nicht klar, dass unter Stalin so gut wie alle Kirchen in Russland geschlossen und zweckentfremdet wurden − in Schuhfabriken, Pferdeställe, Schwimmbäder. In der westlichen Presse habe ich auch keine ausführlichen Hinweise darüber bekommen, dass eigentlich erst Wladimir Putin veranlasst hat, ausnahmslos alle Kirchen wieder in die Hände ihrer Gemeinden zu übergeben. Faktisch wurde erst damit das Kapitel der Christenverfolgung unter Stalin endgültig geschlossen.

 

Was man in der westlichen Presse dagegen mehrfach lesen konnte, waren die Vorwürfe der Aktivistinnen mit den Initialen PR, Putin sei ein Herrscher stalinistischer Prägung. Aber ist das nicht Unsinn? Ich kann mir vorstellen, dass es vor allem der Akt dieser halbnackten Skandaldamen war, der die Gläubigen an die stalinistische Christenverfolgung und jahrzehntelange Entweihung von Kirchen erinnert hat.

 

Dass dieser Akt bestraft wurde, ist aus der Geschichte des Landes zu verstehen. Das Urteil demonstriert, dass die Kirche im heutigen Russland unter staatlichem Schutz steht, und das werden Gläubige, die siebzig Jahre Unterdrückung hinter sich haben, vermutlich als beruhigend erleben.

 

Mag sein, dass das Strafmaß in unserer Wahrnehmung zu drastisch und zu hoch ausgefallen ist, dennoch, das Ganze ist eine interne russische Angelegenheit, in die wir uns mit unseren Maßstäben nicht reinzuhängen haben. Schon gar nicht, um Sanktionen zu begründen, unter denen Millionen von Russen zu leiden haben.

 

Besetztes Land ohne Besatzer

Die Krim wurde annektiert, das sagen einhellig alle westlichen Medien. Annexion bedeutet: Eine fremde Macht hält ein Gebiet, das ihr nicht zusteht, mit militärischer Gewalt besetzt. Aufgrund dieser Behauptung wird die russische Bevölkerung nun schon das dritte Jahr bestraft und eine seit 1941 beispiellose Aufrüstung direkt vor den Grenzen Russlands gerechtfertigt. Die „Krim-Annexion“ ist sozusagen das 9/11 der Russland-Krise. Deshalb kann man diesen Vorwurf gar nicht kritisch genug nachprüfen. Als wir dort ankommen, ist nichts von Besatzung zu spüren. Weder am Flughafen, noch in der Krim-Hauptstadt Simferopol, noch im touristischen Zentrum Jalta sehen wir Soldaten. Nicht einmal Polizisten. Lediglich die touristischen Sehenswürdigkeiten werden von uniformiertem Wachpersonal geschützt. Allen voran der Khans-Palast in Bachtschissaraj, das Heiligtum der angeblich schwer unterdrückten Krim-Tataren.

 

In Jalta sind wir beeindruckt von einer vollkommen friedlichen und kulturvollen Sommeridylle. Am Abend versammelt sich alles, was sich herausputzen kann, auf der Uferpromenade, lustwandelt vorbei an Straßengalerien, Zauber- und Jonglierkünstlern, Streichquartetten und natürlich den Barden (in Deutschland bekannt unter dem urdeutschen Begriff „Singer-Songwriter“). Die Barden und Bardinnen singen vor dem Sternenhimmel überm Schwarzen Meer und das Publikum singt mit. Oder man tanzt auf dem Boulevard nach traditionellen russischen Weisen. Von bedrückter Stimmung ist hier nichts zu spüren.

 

Wir bemühen uns, Leute kennenzulernen, begegnen Julia, einer Russin, die mit einem Ukrainer verheiratet ist, und einer ostdeutschen Frau, Maria, die ihre russische Schwiegermutter pflegt und die Krim seit über dreißig Jahren kennt. Auch nutzen wir jede Gelegenheit für kurze Gespräche. Alle bestätigen uns unabhängig voneinander, dass die überwältigende Mehrheit ihrer Bekannten und Nachbarn für den Anschluss an Russland gestimmt hat.

 

Bei der Eröffnung des Theaterfestivals im Tschechow-Theater wird eine feierliche Rede gehalten, in der neben vielen anderen Dingen auch der Anschluss an Russland erwähnt wird. Das Festivalpublikum applaudiert laut und wohlwollend. Es wirkt weder gezwungen noch übertrieben frenetisch. Russische Kultur in Jalta gehört wieder zu Russland, darüber freut man sich eben.

 

An der Strandpromenade finden wir weder Putin-Porträts noch andere Symbole des russischen Nationalismus, die auf einen „Sommer der Patrioten“ hinweisen, wie eine gefeierte Reisereportage des Deutschlandradio noch 2014 titelte. (1) Mag sein, dass ein solcher Patriotismus kurz nach dem Referendum zu spüren war. Wir haben eher das Gefühl, dass alle froh sind, dass die Dinge ihren Gang gehen und es mit dem Tourismus wieder richtig gut läuft.

 

Dass man russische Staatsleute von Lenin bis Putin auf diversen Souvenirs veräppelt, ist russische Kultur und hat weniger mit Personenkult zu tun als mit einer Art russischem Humor, den wir einfach nicht verstehen. Wer Witze ernst nimmt, sollte vielleicht damit rechnen, sich lächerlich zu machen.

 

Dass man fast nur noch Touristen aus Russland auf der Krim findet, hat eigentlich nur einen Grund. Seit 2014 machen sich europäische Reisebüros strafbar, wenn sie Reisen auf die Krim anbieten. Sehr häufig haben wir die Frage zu hören bekommen: „Warum kommen die Deutschen nicht mehr? Früher waren hier so viele von euch.“

 

Unsere Erklärung, dass Europa das Krim-Referendum nicht anerkennt und deshalb das Tourismusgeschäft mit der Krim verbietet, hören sie mit fassungslosem Staunen. Nicht einer konnte diese Logik nachvollziehen.

 

„Klar hat es Leute gegeben, die gegen den Anschluss waren“, erzählt uns Maria aus Ostdeutschland, „das waren vor allem Ukrainer. Und viele von denen sind dann auch in die Ukraine gezogen. Was ist daran falsch?“

 

Sie selbst findet den Anschluss richtig.

 

„Was hatten die Leute hier denn von der Ukraine?“, fragt sie. „Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es buchstäblich nichts auf der Krim. Meine Schwiegereltern hatten nichts zu essen, wir sind jahrelang mit einer Tiefkühltruhe zu Besuch gekommen und haben sie mit Fleisch und Gemüse versorgt. Die Ukraine hat sich nicht gekümmert. Die haben sich eher geholt, was von der Krim noch zu holen war.“

 

Krankenhäuser und Straßen seien in dieser Zeit völlig verkommen. Die Krim hat sich selbst geholfen und ist in dieser Zeit zu einer Insel der privaten Kleinwirtschaft geworden. Heute kauft man Fleisch, Brot und Gemüse, aber auch alles, was man sonst noch zum Leben braucht, auf dem Rynok, dem Markt ein. 

 

Das einstige sowjetische Kaufhaus ist nur noch eine leer stehende Ruine.

 

Doch überall auf der Insel sind auch die ersten Ergebnisse des Strukturförderprogrammes zu sehen, dass Russland 2014 auf der Krim angeschoben hat. Viele Straßen sind ganz neu gemacht, Wohnkomplexe wachsen in die Höhe oder sind gerade fertiggestellt, zwei Elektrizitätswerke wurden gebaut. Auch die medizinische Versorgung sei deutlich besser geworden, bestätigt Maria.

 

Der eigentliche Grund für das Referendum sei aber nicht die Aussicht auf bessere Lebensverhältnisse gewesen. Für die meisten, mit denen wir sprechen, ist vor allem klar: Das Krim-Referendum war die Antwort auf den Sturz der Janukowitsch-Regierung, auf die Bedrohung durch den rechten, anti-russischen Sektor und auf das Vordringen der NATO. Sevastopol als künftiger NATO-Stützpunkt? Das ist für die meisten Bewohner der Krim undenkbar.

 

Was in unseren Medien nicht erzählt wird

Am Ende unserer Reise lernen wir Olga kennen, die hervorragend deutsch spricht und auf der Krim und in St. Petersburg lebt. Sie erzählt, dass sie bis 2014 völlig unpolitisch war, sich aber nun politisch engagiert. Grund dafür ist die westliche Berichterstattung über das, was angeblich auf der Krim passiert sei. Sie habe nie für möglich gehalten, dass Zeitungen, die sie bisher sehr geschätzt hätte, so falsche Bilder vermitteln könnten. Deshalb setzt sie sich im Internet für die Verbreitung alternativer Quellen ein.

 

Woran westliche Medien zum Beispiel so gut wie nie erinnern, ist, dass es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehrere Referenden gab, bei denen die Krim-Bevölkerung ihren Willen zum Verbleib in der russischen Föderation deutlich gemacht hat. Durch politisches Taktieren der Ukraine endete dieser Prozess damit, der Krim einen Sonderstatus anzuerkennen, den einer „autonomen Republik“ der Ukraine. Diese Geschichte wird in unserem Reiseführer von 2007 (neuere gibt es nicht mehr) noch erzählt. Darin wird auch von einem NATO-Manöver berichtet, dass die Kiewer Regierung 2006 vor der Krim-Küste abhalten lassen wollte und das die autonome Krim-Bevölkerung durch tagelange Massenproteste verhinderte. (2)

 

Es ist bezeichnend, dass unsere „Qualitätspresse“ notorische Vergesslichkeit beweist, wenn sie stets versäumt, auf den Autonomiestatus der Krim zur Zeit des Referendums hinzuweisen.

 

Der Putsch-Regierung in Kiew muss aber sehr wohl klar gewesen sein, dass es diesen Autonomiestatus gab und dass die Krim-Bevölkerung erneut eine Volksabstimmung einberufen würde, um sich vor dem NATO-freundlichen Kurs der Putschisten zu schützen, also um eine Sezession, eine Abspaltung durchzusetzen.

 

Die Quellen, auf die Olga mich hingewiesen hat, belegen, dass es von Seiten der Ukraine einige Anstrengungen gab, die Krim-Bevölkerung einzuschüchtern. Der Spannungen eskalierten, als im Februar 2014 mehrere Busse mit Krim-Russen nahe des ukrainischen Städtchens Korsun von ukrainischen Paramilitärs gestoppt wurden. Die Krim-Bewohner hatten sich in Kiew an einer Anti-Maidan-Demonstration beteiligt und waren nun auf der Heimfahrt. Bilder und Interviews belegen, wie sie aus Bussen gezerrt, verprügelt, schwer verletzt und erschossen wurden. (3)

 

Nach diesem Ereignis bildeten sich Volkswehren auf der Krim, um das Eindringen solcher paramilitärischer Einheiten auf die Krim zu verhindern.

 

Ein weiterer Dokumentarfilm belegt, dass es massive Versuche des ukrainischen Militärs und Paramilitärs (rechter Sektor) gab, die Krim zu besetzen. (4) Das Ziel dabei war klar, das drohende Referendum sollte verhindert werden. Der Film zeigt, wie auf beiden Seiten verschiedene Kräfte kooperierten. Auf Seiten der Ukraine standen, wie gesagt, die ukrainische Armee und der rechte Sektor. Es wird aber auch eine Fregatte der US-Marine gezeigt, die angeblich nur zu Manövern im Schwarzen Meer war, jedoch bedrohlich nah vor den Ufern Sevastopols ankerte.

 

Auf Seiten der Volkswehren wird kein Hehl daraus gemacht, dass russische Soldaten vom Marinestützpunkt Sevastopol ihre Kasernen verließen, um die Verteidigungsmanöver der Volkswehren zu unterstützen, die vor allem darin bestanden, die Eindringlinge mit zahlenmäßiger Überlegenheit zu empfangen und zum kampflosen Rückzug zu zwingen.

 

Selbst die angeblich so russenfeindlichen Kosaken werden als Unterstützer dokumentiert. Entscheidende Hilfe kam aber auch von ukrainischer Seite, denn mehrere Einheiten der ukrainischen Armee ließen sich ohne großen Widerstand entwaffnen bzw. wechselten die Seiten. Die Bereitschaft, für die neue Putschregierung zu sterben, war offensichtlich nicht groß. Der Film zeigt ganz offen, dass Wladimir Putin ab einem bestimmten Punkt persönlich die Koordination dieses militärischen Kräftemessens auf der Krim übernommen hat und dabei die brandgefährliche Situation zu einem, wie bekannt, unblutigen Ende geführt hat.

 

Meiner Meinung nach passt diese Darstellung wesentlich besser ins Gesamtbild als die Version vom urplötzlichen Einmarsch der russischen Armee auf die Krim.

 

Warum sollte die Kiewer Regierung, die bis heute alles tut, um die abtrünnige Ostukraine mit militärischen Mitteln unter ihre Macht zu zwingen, nicht versucht haben, die Krim-Bevölkerung an jenem Referendum zu hindern, zu dem sie aufgrund ihres Autonomie-Status jedes Recht hatten? Die Bevölkerung auf der Krim weiß ziemlich genau, dass sie nur knapp dem Schicksal der Ost-Ukraine entgangen ist. Und wir haben nicht einen getroffen, der nicht froh darüber war, auf einer friedlichen Halbinsel zu leben, auf die schon wieder fast so viele Touristen kommen wie vor 2014.

 

Warum ganz Russland für diesen Frieden bestraft wird, versteht hier keiner. Warum auch, es ist absurd. Die autonome Republik Krim hatte jedes Recht auf ihre Selbstbestimmung.

 

Die unendliche
Geschichte auf der Krim

Im Mai diesen Jahres gewann die ukrainische Sängerin Jamala den ESC mit ihrer Ballade über die Verschleppung der Krim-Tataren. Obwohl die Regeln des ESC politische Agitation untersagen, wurde die Geschichte der Vertreibung der Krim-Tataren durch Stalin in unseren Medien wieder und wieder erzählt, nicht ohne Verweise darauf, dass die Tataren auch heute auf der Krim nichts zu lachen hätten. Grund genug für uns, nach Bachtschyssaraj zu fahren, der historischen Hauptstadt der Krim-Tataren.

 

In unserem Reiseführer heißt es, Stalin habe die Krim-Tataren unter dem Vorwand, sie hätten mit der deutschen Wehrmacht kooperiert, deportieren lassen, wobei Tausende auf dem unmenschlichen Transport starben. Das Wort „Vorwand“ lässt vermuten, dass die Affäre der Tataren mit Hitler heruntergespielt werden soll. Ein Spiegel-Artikel von 1967 stellt allerdings noch sehr ausführlich dar, wie tiefgreifend diese Kooperation war. Ganze sechs Bataillone mit geschätzt 20.000 Krim-Tataren kämpften gegen Partisanen der Roten Armee. (5) Nichtsdestotrotz haben auch Tausende von Krim-Tataren in der Roten Armee gekämpft, was bei der stalinistischen Deportation wiederum nicht berücksichtigt wurde. Alles in allem also eine äußerst tragische Geschichte.

 

Im historischen Teil von Bachtschyssaraj treffen wir viele Nachkommen der einst deportierten Krim-Tataren. Sie verkaufen an den Straßenrändern Souvenirs oder Granatapfelsaft, führen Kioske oder traditionelle muslimische Restaurants, in denen man auf Podesten mit Kissen sitzt und keinen Alkohol bekommt. Von Unterdrückung ist erst einmal nichts zu spüren.

 

Zwei junge Kioskverkäuferinnen erzählen uns ihre Geschichte: Sie sind als Kinder oder Enkel verschleppter Krim-Tataren in Usbekistan großgeworden und Anfang der Neunziger Jahre auf die Krim zurückgekehrt. Eine Geschichte, die wir noch häufig hören. Das bedeutet, dass die Rückkehr der meisten Kinder und Enkel deportierter Krim-Tataren mitten in die postsowjetische Krise fiel, als es auf der Krim an allem fehlte. Man kann sich zumindest vorstellen, dass das für alle Beteiligten nicht immer einfach war.

 

Wir finden Unterkunft im Privathotel von Fedja, ebenfalls ein Krim-Tatare, der in Usbekistan geboren ist und seit Anfang der Neunziger Jahre auf der Krim lebt. Er hat 15 Jahre als Polizist für die Ukraine gearbeitet und bezieht seit seinem 38. Lebensjahr Rente. Das sei die normale Polizistenkarriere in der Ukraine, in Russland aber auch, und Russland zahlt Fedjas Rente nach dem Anschluss anstandslos weiter.

 

Fedja, der eigentlich ein netter Mann ist, schimpft oft auf die Russen. Die Russen seien faul und würden nur saufen. Und sie würden die Krim-Tataren diskriminieren.

 

„Wie denn?“, fragen wir neugierig.

 

Fedja überlegt und erklärt uns, wenn ein Russe einen Arbeitsplatz zu vergeben hätte, würde er unter den Bewerbern die Russen bevorzugen. Wir fragen lieber nicht, ob es im umgekehrten Fall nicht genauso wäre.

 

Denn an Arbeit scheint es den Krim-Tataren trotzdem nicht zu mangeln.

 

Fedja erklärt uns, dass Krim-Tataren generell fleißig seien und viel arbeiten würden. Er selbst führt als junger Rentner sein Privathotel und baut außerdem noch Wein an. Auf einer Autofahrt zeigt er uns eine Siedlung neuer Einfamilienhäuser und erklärt stolz, da wohnten nur Krim-Tataren, die würden eben Häuser bauen, anstatt ihr Geld zu versaufen. Putin nennt er das russische Schwein. Als Fedja merkt, dass er uns eigentlich keinen wirklich beeindruckenden Beweis für die Unterdrückung der Krim-Tataren nennen kann, sagt er: „Wir können den Russen die Deportation einfach nicht verzeihen. “ Wir nicken verständnisvoll.

 

Allerdings ist dieses Nicht-verzeihen-Wollen und die Angst vor der Wiederholung der Geschichte nicht nur das Problem der Krim-Tataren. In Russland gibt es immer zwei Kapitel, die je nach persönlicher Familiengeschichte Wiederholungsängste auslösen. Die Stalinistischen Säuberungen zum einen und die Verbrechen der deutschen Wehrmacht zum anderen. So wie die Krim-Tataren und Ukrainer den Russen pauschal vorwerfen, Stalin unterstützt zu haben, so können die Russen den Krim-Tataren und Ukrainern vorwerfen, dass sie jene Barbaren unterstützt zu haben, die in russischen Dörfern und Städten Massenmorde an Zivilisten verübten.

 

Auch das Massaker von Babij Jar bei Kiew und zahllose weitere Morde an jüdischen und russischen Zivilisten sind Teil der ukrainisch-russischen Geschichte.

 

Zum Konflikt zwischen Krim-Russen und Krim-Tataren gehört auch die heutige Bewertung des Ukraine-Konfliktes. Fedja steht voll auf der Seite von Kiew. Die Russen dagegen sehen in der Einkreisung von Donezk und Luhansk eine Wiederholung der Belagerung von Stalingrad, Leningrad und anderer russischer Städte. Und das ist aus ihrer Sicht sogar nachvollziehbar. Nicht die Volkswehren marschieren auf Kiew zu, die ukrainische Armee versucht diese Städte immer wieder einzukesseln und zu beschießen.

 

Das Georgs-Band, das Symbol des russischen Sieges über den deutschen Faschismus, ist heute überall auf der Krim zu sehen und macht deutlich, wie Krim-Russen diesen Konflikt einordnen. 

 

Nachdem wir sowohl Russen als auch Krim-Tataren kennengelernt haben, entsteht der Eindruck, dass es noch einige Zeit und heimischen Rotwein braucht, bis beide Seiten einander die Verbrechen ihrer Großeltern verzeihen können. Umso mehr empfinden wir den europäischen Propagandarummel um Jamila als unsäglich dumm und verantwortungslos. Wenn es einem wirklich um Menschenrechte geht, kann man nicht den einen Teil der Geschichte aufbauschen, ohne den anderen mit zu erzählen.

 

Und vor allem braucht Russland nicht erst die Deutschen dazu, um sich mit seiner stalinistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. In einem besonderen Museum in Bachtschyssaraj wird ausführlich auf die Geschichte der Deportation der Krim-Tataren eingegangen. Und nirgendwo kann man sich so detailliert über sämtliche Verbrechen des Stalinismus informiere, wie im politisch-historischen Museum von St. Petersburg. Die Frage: Wie gehen wir mit unserer stalinistischen bzw. kommunistischen Vergangenheit um? ist außerdem ein Topthema in den Talkshows im russischen Fernsehen, wovon wir uns in unseren Hotelfernsehern mehrfach überzeugen konnten.

 

Im Vergleich dazu scheinen die Enkel der deutschen Wehrmacht an historischer Amnesie zu leiden. Anstatt sich mit den Verbrechen ihrer Großväter in Russland zu beschäftigen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen, rücken sie nun schon zum dritten Mal auf Russland vor. Die Sanktionen sind ein Teil davon.

 

Und ihre Begründung ist äußerst fragwürdig, wenn nicht sogar völlig haltlos. Das ist zumindest der Eindruck, den ich nach unserer Reise auf die Krim gewonnen habe. Für mich und meinen Mann sind die Sanktionen eine unglaubliche Anmaßung der russischen Bevölkerung gegenüber. Deutsche sollten ihrer historischen Verantwortung gerecht werden und sofort mit diesem Unsinn aufzuhören.

Quellen:

Reportage „Sommer der Patrioten“ <http://www.deutschlandradiokultur.de/urlaub-auf-der-krim-sommer-der-patrioten.1076.de.html?dram:article_id=296122>

„Die Krim entdecken“, Trescher Verlag 2007, S. 42-43

Dokumentarfilm: „Das Pogrom von Korsun“, <http://de.ukraine-human-rights.org/das-pogrom-von-korsun/>

Dokumentarfilm: Krim, der Weg in die Heimat, <https://de.sputniknews.com/videos/20150327301671848/>

„Ohr ab“ Spiegel-Artikel über die Kollaboration der Krim-Tataren mit Hitler, Spiegel-Archiv 25.09.1967 <http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46353381.html>

Umfassender Bericht über die ganze Reise von Katrin McClean <http://texterin-hamburg.de/resources/Reise+in+ein+bestraftes+Land.pdf>

Sanktionen:

Reise in ein bestraftes Land

Von Published On: 2. Dezember 2016Kategorien: Allgemein

Schon im Frühjahr diesen Jahres − 2016 − haben mein Mann und ich beschlossen, nach Russland und von dort auf die Krim zu reisen. Angesichts der einseitigen Berichterstattung über Russland hielten wir es für einen Akt zur Rettung des gesunden Menschenverstandes, selbst in dieses Land zu fahren und uns ein eigenes Bild zu machen. Dabei wollten wir auch die Vorwürfe überprüfen, mit denen die weitreichenden Sanktionen gegen Russland begründet werden.

 

Auf unserer Reise bekamen wir ein ungefähres Bild davon, wen die Sanktionen wirklich treffen. Die westlichen Global Player wie Starbucks, McDonalds oder VW machen ihre Geschäfte weiter. Die russische Industrie wendet sich nach Indien und China, die Tourismusindustrie tut das auf jeden Fall, was in den touristischen Hochburgen von Petersburg − „Eremitage“ und „Zarskoje Selo“ − unschwer zu erkennen ist. Leidtragende der Sanktionen sind vor allem die ärmeren Schichten der Bevölkerung, denn sie bekommen den Werteverlust des Rubels, der sich zu einem großen Teil durch die Sanktionen begründet, empfindlich zu spüren. Rentner, deren monatliches Einkommen von umgerechnet 300 Euro auf umgerechnet 200 Euro gesunken ist, zum Beispiel. Nicht der Multimillionär Putin leidet unter den Sanktionen der „internationalen Wertegemeinschaft“. Geringverdiener und kinderreiche Familien werden bestraft. Aber wofür eigentlich?

 

Gesegnete Reise – die russische Kirche und Gedanken über Pussy Riot

St. Petersburg empfängt uns mit strömendem Regen und so zieht es uns schon am ersten Abend in eine der beeindruckenden Kirchen der Stadt. In der Wladimir-Kathedrale erleben wir einen russisch-orthodoxen Gottesdienst. Das heißt, die Gläubigen betreten jeder für sich den Gebetsraum, gehen von Ikone zu Ikone, um sich vor ihr zu bekreuzigen oder sie zu küssen, ein Priester tritt aus einem Lettner heraus, um Gebete zu singen, die von einem Chor auf einem Balkon gegenüber mit beeindruckendem Gesang erwidert werden. Nicht die Gläubigen kommen zum Priester, um sich weihen zu lassen, der Priester kommt zu den Gläubigen, schwenkt seine Weihrauchkanne und bedenkt sie mit einem offenen, ernsten Blick. Auch wir werden auf diese Weise gesegnet, obwohl wir weder beten noch Kreuze schlagen.

 

Die Atmosphäre ist feierlich, das Wort „sakral“ gewinnt hier seine Bedeutung. Tief beeindruckt von der Hingabe der Gläubigen und den wunderschönen Gesängen verlassen wir nach einer halben Stunde die Wladimir-Kathedrale.

 

Auf der Straße fällt uns beiden dieselbe Frage ein: Was wäre, wenn in diesen Gottesdienst halbnackte Frauen hereingesprungen wären und Parolen gegen Putin gebrüllt hätten? Ich kann die Empörung russischer Gläubiger über einen solchen Akt der Entweihung fast körperlich nachvollziehen.

 

Dabei ist mir das Schlimmste noch nicht bewusst. In den nächsten Tagen in St. Petersburg lernen wir, was stalinistische und kommunistische Herrschaft für das religiöse Leben in Russland bedeuteten. Mir war nicht klar, dass unter Stalin so gut wie alle Kirchen in Russland geschlossen und zweckentfremdet wurden − in Schuhfabriken, Pferdeställe, Schwimmbäder. In der westlichen Presse habe ich auch keine ausführlichen Hinweise darüber bekommen, dass eigentlich erst Wladimir Putin veranlasst hat, ausnahmslos alle Kirchen wieder in die Hände ihrer Gemeinden zu übergeben. Faktisch wurde erst damit das Kapitel der Christenverfolgung unter Stalin endgültig geschlossen.

 

Was man in der westlichen Presse dagegen mehrfach lesen konnte, waren die Vorwürfe der Aktivistinnen mit den Initialen PR, Putin sei ein Herrscher stalinistischer Prägung. Aber ist das nicht Unsinn? Ich kann mir vorstellen, dass es vor allem der Akt dieser halbnackten Skandaldamen war, der die Gläubigen an die stalinistische Christenverfolgung und jahrzehntelange Entweihung von Kirchen erinnert hat.

 

Dass dieser Akt bestraft wurde, ist aus der Geschichte des Landes zu verstehen. Das Urteil demonstriert, dass die Kirche im heutigen Russland unter staatlichem Schutz steht, und das werden Gläubige, die siebzig Jahre Unterdrückung hinter sich haben, vermutlich als beruhigend erleben.

 

Mag sein, dass das Strafmaß in unserer Wahrnehmung zu drastisch und zu hoch ausgefallen ist, dennoch, das Ganze ist eine interne russische Angelegenheit, in die wir uns mit unseren Maßstäben nicht reinzuhängen haben. Schon gar nicht, um Sanktionen zu begründen, unter denen Millionen von Russen zu leiden haben.

 

Besetztes Land ohne Besatzer

Die Krim wurde annektiert, das sagen einhellig alle westlichen Medien. Annexion bedeutet: Eine fremde Macht hält ein Gebiet, das ihr nicht zusteht, mit militärischer Gewalt besetzt. Aufgrund dieser Behauptung wird die russische Bevölkerung nun schon das dritte Jahr bestraft und eine seit 1941 beispiellose Aufrüstung direkt vor den Grenzen Russlands gerechtfertigt. Die „Krim-Annexion“ ist sozusagen das 9/11 der Russland-Krise. Deshalb kann man diesen Vorwurf gar nicht kritisch genug nachprüfen. Als wir dort ankommen, ist nichts von Besatzung zu spüren. Weder am Flughafen, noch in der Krim-Hauptstadt Simferopol, noch im touristischen Zentrum Jalta sehen wir Soldaten. Nicht einmal Polizisten. Lediglich die touristischen Sehenswürdigkeiten werden von uniformiertem Wachpersonal geschützt. Allen voran der Khans-Palast in Bachtschissaraj, das Heiligtum der angeblich schwer unterdrückten Krim-Tataren.

 

In Jalta sind wir beeindruckt von einer vollkommen friedlichen und kulturvollen Sommeridylle. Am Abend versammelt sich alles, was sich herausputzen kann, auf der Uferpromenade, lustwandelt vorbei an Straßengalerien, Zauber- und Jonglierkünstlern, Streichquartetten und natürlich den Barden (in Deutschland bekannt unter dem urdeutschen Begriff „Singer-Songwriter“). Die Barden und Bardinnen singen vor dem Sternenhimmel überm Schwarzen Meer und das Publikum singt mit. Oder man tanzt auf dem Boulevard nach traditionellen russischen Weisen. Von bedrückter Stimmung ist hier nichts zu spüren.

 

Wir bemühen uns, Leute kennenzulernen, begegnen Julia, einer Russin, die mit einem Ukrainer verheiratet ist, und einer ostdeutschen Frau, Maria, die ihre russische Schwiegermutter pflegt und die Krim seit über dreißig Jahren kennt. Auch nutzen wir jede Gelegenheit für kurze Gespräche. Alle bestätigen uns unabhängig voneinander, dass die überwältigende Mehrheit ihrer Bekannten und Nachbarn für den Anschluss an Russland gestimmt hat.

 

Bei der Eröffnung des Theaterfestivals im Tschechow-Theater wird eine feierliche Rede gehalten, in der neben vielen anderen Dingen auch der Anschluss an Russland erwähnt wird. Das Festivalpublikum applaudiert laut und wohlwollend. Es wirkt weder gezwungen noch übertrieben frenetisch. Russische Kultur in Jalta gehört wieder zu Russland, darüber freut man sich eben.

 

An der Strandpromenade finden wir weder Putin-Porträts noch andere Symbole des russischen Nationalismus, die auf einen „Sommer der Patrioten“ hinweisen, wie eine gefeierte Reisereportage des Deutschlandradio noch 2014 titelte. (1) Mag sein, dass ein solcher Patriotismus kurz nach dem Referendum zu spüren war. Wir haben eher das Gefühl, dass alle froh sind, dass die Dinge ihren Gang gehen und es mit dem Tourismus wieder richtig gut läuft.

 

Dass man russische Staatsleute von Lenin bis Putin auf diversen Souvenirs veräppelt, ist russische Kultur und hat weniger mit Personenkult zu tun als mit einer Art russischem Humor, den wir einfach nicht verstehen. Wer Witze ernst nimmt, sollte vielleicht damit rechnen, sich lächerlich zu machen.

 

Dass man fast nur noch Touristen aus Russland auf der Krim findet, hat eigentlich nur einen Grund. Seit 2014 machen sich europäische Reisebüros strafbar, wenn sie Reisen auf die Krim anbieten. Sehr häufig haben wir die Frage zu hören bekommen: „Warum kommen die Deutschen nicht mehr? Früher waren hier so viele von euch.“

 

Unsere Erklärung, dass Europa das Krim-Referendum nicht anerkennt und deshalb das Tourismusgeschäft mit der Krim verbietet, hören sie mit fassungslosem Staunen. Nicht einer konnte diese Logik nachvollziehen.

 

„Klar hat es Leute gegeben, die gegen den Anschluss waren“, erzählt uns Maria aus Ostdeutschland, „das waren vor allem Ukrainer. Und viele von denen sind dann auch in die Ukraine gezogen. Was ist daran falsch?“

 

Sie selbst findet den Anschluss richtig.

 

„Was hatten die Leute hier denn von der Ukraine?“, fragt sie. „Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es buchstäblich nichts auf der Krim. Meine Schwiegereltern hatten nichts zu essen, wir sind jahrelang mit einer Tiefkühltruhe zu Besuch gekommen und haben sie mit Fleisch und Gemüse versorgt. Die Ukraine hat sich nicht gekümmert. Die haben sich eher geholt, was von der Krim noch zu holen war.“

 

Krankenhäuser und Straßen seien in dieser Zeit völlig verkommen. Die Krim hat sich selbst geholfen und ist in dieser Zeit zu einer Insel der privaten Kleinwirtschaft geworden. Heute kauft man Fleisch, Brot und Gemüse, aber auch alles, was man sonst noch zum Leben braucht, auf dem Rynok, dem Markt ein. 

 

Das einstige sowjetische Kaufhaus ist nur noch eine leer stehende Ruine.

 

Doch überall auf der Insel sind auch die ersten Ergebnisse des Strukturförderprogrammes zu sehen, dass Russland 2014 auf der Krim angeschoben hat. Viele Straßen sind ganz neu gemacht, Wohnkomplexe wachsen in die Höhe oder sind gerade fertiggestellt, zwei Elektrizitätswerke wurden gebaut. Auch die medizinische Versorgung sei deutlich besser geworden, bestätigt Maria.

 

Der eigentliche Grund für das Referendum sei aber nicht die Aussicht auf bessere Lebensverhältnisse gewesen. Für die meisten, mit denen wir sprechen, ist vor allem klar: Das Krim-Referendum war die Antwort auf den Sturz der Janukowitsch-Regierung, auf die Bedrohung durch den rechten, anti-russischen Sektor und auf das Vordringen der NATO. Sevastopol als künftiger NATO-Stützpunkt? Das ist für die meisten Bewohner der Krim undenkbar.

 

Was in unseren Medien nicht erzählt wird

Am Ende unserer Reise lernen wir Olga kennen, die hervorragend deutsch spricht und auf der Krim und in St. Petersburg lebt. Sie erzählt, dass sie bis 2014 völlig unpolitisch war, sich aber nun politisch engagiert. Grund dafür ist die westliche Berichterstattung über das, was angeblich auf der Krim passiert sei. Sie habe nie für möglich gehalten, dass Zeitungen, die sie bisher sehr geschätzt hätte, so falsche Bilder vermitteln könnten. Deshalb setzt sie sich im Internet für die Verbreitung alternativer Quellen ein.

 

Woran westliche Medien zum Beispiel so gut wie nie erinnern, ist, dass es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehrere Referenden gab, bei denen die Krim-Bevölkerung ihren Willen zum Verbleib in der russischen Föderation deutlich gemacht hat. Durch politisches Taktieren der Ukraine endete dieser Prozess damit, der Krim einen Sonderstatus anzuerkennen, den einer „autonomen Republik“ der Ukraine. Diese Geschichte wird in unserem Reiseführer von 2007 (neuere gibt es nicht mehr) noch erzählt. Darin wird auch von einem NATO-Manöver berichtet, dass die Kiewer Regierung 2006 vor der Krim-Küste abhalten lassen wollte und das die autonome Krim-Bevölkerung durch tagelange Massenproteste verhinderte. (2)

 

Es ist bezeichnend, dass unsere „Qualitätspresse“ notorische Vergesslichkeit beweist, wenn sie stets versäumt, auf den Autonomiestatus der Krim zur Zeit des Referendums hinzuweisen.

 

Der Putsch-Regierung in Kiew muss aber sehr wohl klar gewesen sein, dass es diesen Autonomiestatus gab und dass die Krim-Bevölkerung erneut eine Volksabstimmung einberufen würde, um sich vor dem NATO-freundlichen Kurs der Putschisten zu schützen, also um eine Sezession, eine Abspaltung durchzusetzen.

 

Die Quellen, auf die Olga mich hingewiesen hat, belegen, dass es von Seiten der Ukraine einige Anstrengungen gab, die Krim-Bevölkerung einzuschüchtern. Der Spannungen eskalierten, als im Februar 2014 mehrere Busse mit Krim-Russen nahe des ukrainischen Städtchens Korsun von ukrainischen Paramilitärs gestoppt wurden. Die Krim-Bewohner hatten sich in Kiew an einer Anti-Maidan-Demonstration beteiligt und waren nun auf der Heimfahrt. Bilder und Interviews belegen, wie sie aus Bussen gezerrt, verprügelt, schwer verletzt und erschossen wurden. (3)

 

Nach diesem Ereignis bildeten sich Volkswehren auf der Krim, um das Eindringen solcher paramilitärischer Einheiten auf die Krim zu verhindern.

 

Ein weiterer Dokumentarfilm belegt, dass es massive Versuche des ukrainischen Militärs und Paramilitärs (rechter Sektor) gab, die Krim zu besetzen. (4) Das Ziel dabei war klar, das drohende Referendum sollte verhindert werden. Der Film zeigt, wie auf beiden Seiten verschiedene Kräfte kooperierten. Auf Seiten der Ukraine standen, wie gesagt, die ukrainische Armee und der rechte Sektor. Es wird aber auch eine Fregatte der US-Marine gezeigt, die angeblich nur zu Manövern im Schwarzen Meer war, jedoch bedrohlich nah vor den Ufern Sevastopols ankerte.

 

Auf Seiten der Volkswehren wird kein Hehl daraus gemacht, dass russische Soldaten vom Marinestützpunkt Sevastopol ihre Kasernen verließen, um die Verteidigungsmanöver der Volkswehren zu unterstützen, die vor allem darin bestanden, die Eindringlinge mit zahlenmäßiger Überlegenheit zu empfangen und zum kampflosen Rückzug zu zwingen.

 

Selbst die angeblich so russenfeindlichen Kosaken werden als Unterstützer dokumentiert. Entscheidende Hilfe kam aber auch von ukrainischer Seite, denn mehrere Einheiten der ukrainischen Armee ließen sich ohne großen Widerstand entwaffnen bzw. wechselten die Seiten. Die Bereitschaft, für die neue Putschregierung zu sterben, war offensichtlich nicht groß. Der Film zeigt ganz offen, dass Wladimir Putin ab einem bestimmten Punkt persönlich die Koordination dieses militärischen Kräftemessens auf der Krim übernommen hat und dabei die brandgefährliche Situation zu einem, wie bekannt, unblutigen Ende geführt hat.

 

Meiner Meinung nach passt diese Darstellung wesentlich besser ins Gesamtbild als die Version vom urplötzlichen Einmarsch der russischen Armee auf die Krim.

 

Warum sollte die Kiewer Regierung, die bis heute alles tut, um die abtrünnige Ostukraine mit militärischen Mitteln unter ihre Macht zu zwingen, nicht versucht haben, die Krim-Bevölkerung an jenem Referendum zu hindern, zu dem sie aufgrund ihres Autonomie-Status jedes Recht hatten? Die Bevölkerung auf der Krim weiß ziemlich genau, dass sie nur knapp dem Schicksal der Ost-Ukraine entgangen ist. Und wir haben nicht einen getroffen, der nicht froh darüber war, auf einer friedlichen Halbinsel zu leben, auf die schon wieder fast so viele Touristen kommen wie vor 2014.

 

Warum ganz Russland für diesen Frieden bestraft wird, versteht hier keiner. Warum auch, es ist absurd. Die autonome Republik Krim hatte jedes Recht auf ihre Selbstbestimmung.

 

Die unendliche
Geschichte auf der Krim

Im Mai diesen Jahres gewann die ukrainische Sängerin Jamala den ESC mit ihrer Ballade über die Verschleppung der Krim-Tataren. Obwohl die Regeln des ESC politische Agitation untersagen, wurde die Geschichte der Vertreibung der Krim-Tataren durch Stalin in unseren Medien wieder und wieder erzählt, nicht ohne Verweise darauf, dass die Tataren auch heute auf der Krim nichts zu lachen hätten. Grund genug für uns, nach Bachtschyssaraj zu fahren, der historischen Hauptstadt der Krim-Tataren.

 

In unserem Reiseführer heißt es, Stalin habe die Krim-Tataren unter dem Vorwand, sie hätten mit der deutschen Wehrmacht kooperiert, deportieren lassen, wobei Tausende auf dem unmenschlichen Transport starben. Das Wort „Vorwand“ lässt vermuten, dass die Affäre der Tataren mit Hitler heruntergespielt werden soll. Ein Spiegel-Artikel von 1967 stellt allerdings noch sehr ausführlich dar, wie tiefgreifend diese Kooperation war. Ganze sechs Bataillone mit geschätzt 20.000 Krim-Tataren kämpften gegen Partisanen der Roten Armee. (5) Nichtsdestotrotz haben auch Tausende von Krim-Tataren in der Roten Armee gekämpft, was bei der stalinistischen Deportation wiederum nicht berücksichtigt wurde. Alles in allem also eine äußerst tragische Geschichte.

 

Im historischen Teil von Bachtschyssaraj treffen wir viele Nachkommen der einst deportierten Krim-Tataren. Sie verkaufen an den Straßenrändern Souvenirs oder Granatapfelsaft, führen Kioske oder traditionelle muslimische Restaurants, in denen man auf Podesten mit Kissen sitzt und keinen Alkohol bekommt. Von Unterdrückung ist erst einmal nichts zu spüren.

 

Zwei junge Kioskverkäuferinnen erzählen uns ihre Geschichte: Sie sind als Kinder oder Enkel verschleppter Krim-Tataren in Usbekistan großgeworden und Anfang der Neunziger Jahre auf die Krim zurückgekehrt. Eine Geschichte, die wir noch häufig hören. Das bedeutet, dass die Rückkehr der meisten Kinder und Enkel deportierter Krim-Tataren mitten in die postsowjetische Krise fiel, als es auf der Krim an allem fehlte. Man kann sich zumindest vorstellen, dass das für alle Beteiligten nicht immer einfach war.

 

Wir finden Unterkunft im Privathotel von Fedja, ebenfalls ein Krim-Tatare, der in Usbekistan geboren ist und seit Anfang der Neunziger Jahre auf der Krim lebt. Er hat 15 Jahre als Polizist für die Ukraine gearbeitet und bezieht seit seinem 38. Lebensjahr Rente. Das sei die normale Polizistenkarriere in der Ukraine, in Russland aber auch, und Russland zahlt Fedjas Rente nach dem Anschluss anstandslos weiter.

 

Fedja, der eigentlich ein netter Mann ist, schimpft oft auf die Russen. Die Russen seien faul und würden nur saufen. Und sie würden die Krim-Tataren diskriminieren.

 

„Wie denn?“, fragen wir neugierig.

 

Fedja überlegt und erklärt uns, wenn ein Russe einen Arbeitsplatz zu vergeben hätte, würde er unter den Bewerbern die Russen bevorzugen. Wir fragen lieber nicht, ob es im umgekehrten Fall nicht genauso wäre.

 

Denn an Arbeit scheint es den Krim-Tataren trotzdem nicht zu mangeln.

 

Fedja erklärt uns, dass Krim-Tataren generell fleißig seien und viel arbeiten würden. Er selbst führt als junger Rentner sein Privathotel und baut außerdem noch Wein an. Auf einer Autofahrt zeigt er uns eine Siedlung neuer Einfamilienhäuser und erklärt stolz, da wohnten nur Krim-Tataren, die würden eben Häuser bauen, anstatt ihr Geld zu versaufen. Putin nennt er das russische Schwein. Als Fedja merkt, dass er uns eigentlich keinen wirklich beeindruckenden Beweis für die Unterdrückung der Krim-Tataren nennen kann, sagt er: „Wir können den Russen die Deportation einfach nicht verzeihen. “ Wir nicken verständnisvoll.

 

Allerdings ist dieses Nicht-verzeihen-Wollen und die Angst vor der Wiederholung der Geschichte nicht nur das Problem der Krim-Tataren. In Russland gibt es immer zwei Kapitel, die je nach persönlicher Familiengeschichte Wiederholungsängste auslösen. Die Stalinistischen Säuberungen zum einen und die Verbrechen der deutschen Wehrmacht zum anderen. So wie die Krim-Tataren und Ukrainer den Russen pauschal vorwerfen, Stalin unterstützt zu haben, so können die Russen den Krim-Tataren und Ukrainern vorwerfen, dass sie jene Barbaren unterstützt zu haben, die in russischen Dörfern und Städten Massenmorde an Zivilisten verübten.

 

Auch das Massaker von Babij Jar bei Kiew und zahllose weitere Morde an jüdischen und russischen Zivilisten sind Teil der ukrainisch-russischen Geschichte.

 

Zum Konflikt zwischen Krim-Russen und Krim-Tataren gehört auch die heutige Bewertung des Ukraine-Konfliktes. Fedja steht voll auf der Seite von Kiew. Die Russen dagegen sehen in der Einkreisung von Donezk und Luhansk eine Wiederholung der Belagerung von Stalingrad, Leningrad und anderer russischer Städte. Und das ist aus ihrer Sicht sogar nachvollziehbar. Nicht die Volkswehren marschieren auf Kiew zu, die ukrainische Armee versucht diese Städte immer wieder einzukesseln und zu beschießen.

 

Das Georgs-Band, das Symbol des russischen Sieges über den deutschen Faschismus, ist heute überall auf der Krim zu sehen und macht deutlich, wie Krim-Russen diesen Konflikt einordnen. 

 

Nachdem wir sowohl Russen als auch Krim-Tataren kennengelernt haben, entsteht der Eindruck, dass es noch einige Zeit und heimischen Rotwein braucht, bis beide Seiten einander die Verbrechen ihrer Großeltern verzeihen können. Umso mehr empfinden wir den europäischen Propagandarummel um Jamila als unsäglich dumm und verantwortungslos. Wenn es einem wirklich um Menschenrechte geht, kann man nicht den einen Teil der Geschichte aufbauschen, ohne den anderen mit zu erzählen.

 

Und vor allem braucht Russland nicht erst die Deutschen dazu, um sich mit seiner stalinistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. In einem besonderen Museum in Bachtschyssaraj wird ausführlich auf die Geschichte der Deportation der Krim-Tataren eingegangen. Und nirgendwo kann man sich so detailliert über sämtliche Verbrechen des Stalinismus informiere, wie im politisch-historischen Museum von St. Petersburg. Die Frage: Wie gehen wir mit unserer stalinistischen bzw. kommunistischen Vergangenheit um? ist außerdem ein Topthema in den Talkshows im russischen Fernsehen, wovon wir uns in unseren Hotelfernsehern mehrfach überzeugen konnten.

 

Im Vergleich dazu scheinen die Enkel der deutschen Wehrmacht an historischer Amnesie zu leiden. Anstatt sich mit den Verbrechen ihrer Großväter in Russland zu beschäftigen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen, rücken sie nun schon zum dritten Mal auf Russland vor. Die Sanktionen sind ein Teil davon.

 

Und ihre Begründung ist äußerst fragwürdig, wenn nicht sogar völlig haltlos. Das ist zumindest der Eindruck, den ich nach unserer Reise auf die Krim gewonnen habe. Für mich und meinen Mann sind die Sanktionen eine unglaubliche Anmaßung der russischen Bevölkerung gegenüber. Deutsche sollten ihrer historischen Verantwortung gerecht werden und sofort mit diesem Unsinn aufzuhören.

Quellen:

Reportage „Sommer der Patrioten“ <http://www.deutschlandradiokultur.de/urlaub-auf-der-krim-sommer-der-patrioten.1076.de.html?dram:article_id=296122>

„Die Krim entdecken“, Trescher Verlag 2007, S. 42-43

Dokumentarfilm: „Das Pogrom von Korsun“, <http://de.ukraine-human-rights.org/das-pogrom-von-korsun/>

Dokumentarfilm: Krim, der Weg in die Heimat, <https://de.sputniknews.com/videos/20150327301671848/>

„Ohr ab“ Spiegel-Artikel über die Kollaboration der Krim-Tataren mit Hitler, Spiegel-Archiv 25.09.1967 <http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46353381.html>

Umfassender Bericht über die ganze Reise von Katrin McClean <http://texterin-hamburg.de/resources/Reise+in+ein+bestraftes+Land.pdf>