Wir sind Frieden

Von Published On: 11. März 2018Kategorien: Allgemein

Auf den ersten Blick verbindet einen IT-Kaufmann und Unternehmensberater,  einen Mode-Schneider und einen Künstler aus der Hausbesetzerszene eher wenig. Ob Alter,  Wohnort oder Hobbys – nichts scheint den Dreien gemeinsam zu sein. Es ist der Wunsch, selbst aktiv zu einer friedlicheren Welt beizutragen, der sie vorantreibt und motiviert. Dieses intensive Engagement prägt ihr tagtägliches Handeln.

Paul Ettl

Geboren 1955 in Aschach an der Donau in Oberösterreich, wohnhaft in Linz, Mathematik-Studium. IT-Kaufmann & Unternehmensberater und Familienvater mit Tochter, der sich mit Modelleisenbahn und Ahnenforschung beschäftigt.

 

Wie kommst du zum Thema Frieden?

 

Seit meiner Jugend und besonders in der Studienzeit haben mich politische Themen umgetrieben. Darum habe ich neben dem Studium der Mathematik auch Politik & Philosophie belegt. So nahm ich an der Universität Salzburg Anfang der achtziger Jahre an einem der ersten Projekte im Bereich Friedensforschung teil. In den Jahren darauf blieb ich aktiv und wurde Mitglied und Mitwirkender der Universal Peace Federation (UPF) – einer internationalen Organisation. Auch in der Zeit, in der ich als Unternehmer eine eigene IT-Firma leitete, war mir die Friedensforschung immer ein wichtiges Anliegen.

 

Und seit wann bist du Vollzeit aktiv in der Friedensbewegung?

 

2010 beschloss ich, mein Leben nochmals zu verändern: ein anderer Weg, ein anderer Schwerpunkt als die IT. Angeregt durch eine Friedenskonferenz in Jerusalem, an der ich im August 2010 teilnahm, entstand die Idee der Friedensakademie in Linz. Im November gründete ich gemeinsam mit einigen Freunden den Verein, bereits 2011 führten wir erste Veranstaltungen durch.

 

Wofür steht die Friedensakademie?

 

Frieden ist für mich nicht das Gegenteil von Krieg, sondern das Gegenteil von Unfrieden. Es geht uns daher um den Frieden im Einzelnen, Frieden in der Familie, friedliche Beziehungen zwischen den Religionen und eine wertschätzende, friedliche Wirtschaft, die nicht auf Gier, Neid und Angst, sondern auf Kooperation, Wertschätzung und Gemeinwohlorientierung aufbaut. Der politisch-militärische Aspekt wird angesprochen, ist aber kein Schwerpunkt. Es gibt zahlreiche Gruppen und Initiativen, die sich mit dem politischen Frieden beschäftigen. Uns geht es um nachhaltige Friedensgestaltung. Dazu veranstalten wir Vorträge, Filmabende, Seminare, Workshops und Exkursionen.  Seit November 2016 ist die Friedensakademie mit dem Qualitätssiegel für Erwachsenenbildung zertifiziert. Aktuell liegt unser Fokus auf einem Lehrgang für nachhaltige Friedensgestaltung. Umfassende Informationen findet man natürlich auf unserer Webseite.

 

Kann man von Friedensarbeit leben?

 

Nein. Ich mache das ehrenamtlich. Ich habe meine Firma verkauft, um meine Friedensarbeit bis zur Pensionsberechtigung im Jahr 2020 zu finanzieren.

 

Warum machst du das?

 

Frieden ist mir ein Herzensanliegen – und während meiner unternehmerischen Tätigkeit habe ich die Bedeutung einer werteorientierten Wirtschaft als eine der wichtigen Grundlagen erkannt. Das versuche ich auch persönlich in meinen unterschiedlichen Tätigkeiten zu vermitteln.

 

Bist du auch in anderen Organisationen tätig?

 

Oh ja. Ich engagiere mich im Bereich der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ), bei WIR GEMEINSAM, einem Tauschkreis mit zeitbasierter Alternativwährung, bei Aktionen für das bedingungslose Grundeinkommen und für die Bank für Gemeinwohl. Mit diesen Projekten haben wir auch Kooperationen mit der Friedensakademie, und die Treffen der Regionalgruppen finden oft in unseren Räumlichkeiten statt.

 

Als offizieller Referent der GWÖ halte ich einen bis zwei Vorträge pro Monat, für Unternehmer, an Universitäten und Schulen und letzthin bei einem Lehrerfortbildungskongress in Bayern. Betriebe weise ich auf die Möglichkeiten und Chancen der Gemeinwohl-Bilanz hin und kümmere mich um die Vernetzung in Oberösterreich.

 

Ich habe den Eindruck, dass du sehr breit vernetzt bist

 

Ja, ich versuche überall dort vertreten zu sein, wo es um nachhaltiges und friedliches Wirtschaften geht. Und das bedeutet, nicht nur in der alternativen Szene aktiv zu sein, sondern auch im „normalen“ System. So bin ich in der Lage, Brücken zwischen den verschiedenen Welten zu bauen.

 

Brücken zwischen Friedensaktivismus und Wirtschaftskammer?

 

Ja genau. Als Unternehmer war ich in der Wirtschaftskammer in verschiedenen Funktionen tätig. 2016 und 2017 war ich dann oberösterreichischer Landessprecher der CSR-Consultants Expert Group in der WKO Österreich. Für manche Leute in der Wirtschaftskammer ist die Gemeinwohl-Ökonomie – noch – ein rotes Tuch, der Kommunismus in Reinkultur. Gleichzeitig arbeitet ein großer Anteil der meist familiengeführten Unternehmen in Österreich bereits nachhaltig und gemeinwohl-orientiert, da sie ihren Betrieb auch für die Kinder und Enkel erhalten wollen und die Verantwortung in der Gemeinde/Kommune wahrnehmen. Dadurch, dass ich sowohl als Unternehmer als auch als Vertreter der Gemeinwohl-Ökonomie bekannt bin, kann ich diese Welten zusammenführen – speziell dort, wo es um Werte geht.

 

Welchen Stellenwert haben denn Werte?

 

In familiengeführten Unternehmen spielen Werte eine viel größere Rolle als in managergeführten Unternehmen, die primär an Quartalszahlen orientiert agieren. In einem Konzern ist eine Investition in Maschinen fast immer etwas positives. Sie wird im Anlageverzeichnis der Bilanz erkennbar dargestellt. Für die Investition in Menschen gilt das nicht. Im Gegenteil. Fördert man die Qualifikation der Mitarbeiter durch Schulungen, schmälert das sogar den Gewinn. Die höhere Qualifikation ist in einer normalen Bilanz nicht sichtbar. Diese nicht-monetären Werte einer Firma sind aber entscheidend für ein nachhaltig ausgerichtetes Wirtschaften. Wie kann man sie darstellen? Dieses Thema hat mich schon seit fast zehn Jahren umgetrieben. Dann traf ich Christian Felber, den Begründer der GWÖ. Die in seinem Buch „Gemeinwohl-Ökonomie“ vorgeschlagene Gemeinwohl-Bilanz scheint mir da die passende Lösung. Werteorientiertes Wirtschaften als Grundlage einer friedlichen Gesellschaft war auch einer der Gründe, dass es zur Gründung der Friedensakademie kam.

 

Inwiefern?

 

Ich bin ja Unternehmer und halte den Frieden in der Wirtschaft für enorm wichtig. Das Thema einer werteorientierten, friedlichen Wirtschaft wurde von  anderen Friedensorganisationen aber bisher nicht vertreten. Mein MBA-Studium habe ich 2012 mit einer Masterarbeit mit dem Titel „Die Bilanz der Zukunft? Menschliche Werte in Unternehmen und Gemeinwohl-Bilanz“ abgeschlossen. Diese ist inzwischen auch im deutschen GRIN-Verlag als Buch erschienen. Die Arbeit daran hat mir erneut bestätigt, wie wichtig eine werteorientierte Wirtschaft für den Frieden ist.

 

Wo kann man sich ausführlicher informieren?

 

Auf der Webseite der Friedensakademie www.friedensakademie.at gibt es umfassende Informationen zu allen unseren  Themenschwerpunkten, Infos über die Gemeinwohl-Ökonomie findet man auf www.ecogood.org.

 

Danke für deine Zeit & dein Engagement für den Frieden!

Marco Glowatzki

Geboren 1972 in Crivitz bei Schwerin, gelernter Damen- und Herrenschneidermeister seit 2003 mit eigenem Maßatelier, bis November 2017 wohnhaft in Hamburg, jetzt in Syrien. Das Interview wurde wenige Wochen vor seiner Abreise geführt, wird aber erst jetzt veröffentlicht, da er keine Probleme bei der Ausreise bekommen sollte.

 

Du gehst nach Syrien?

 

Ja. Momentan löse ich meine Firma und meinen Hausstand in Hamburg auf, verkaufe also meinen gesamten Besitzstand in Deutschland, um an der Westküste mit dem Geld eine Atelierschule für Schneider aufzubauen.

 

Wie kommt man dazu, in Syrien eine Schule zu eröffnen?

 

Die Gründe sind vielschichtig. Ich kenne Syrien schon seit Jahren, war oft da – das erste Mal in den 90iger Jahren, das letzte Mal von Dezember 2016 bis Januar 2017. Früher konnte man noch direkt von Hamburg nach Latakia fliegen. Ich habe viele Freunde dort, und bei meiner letzten Reise entstand dann der Plan, dass ich auf Dauer nach Syrien gehen werde. Die Schule ist meine Möglichkeit, etwas zu einer friedlichen Zukunft im Land beizutragen.

 

Persönliche Kontakte nach Syrien sind ja eher selten. Wie kam es bei dir dazu?

 

Das ist ein Relikt der DDR-Zeit. Bei uns gab es zahlreiche ausländische Studenten, viele davon aus Syrien. Der Vater meines besten Freundes hat in Dresden Maschinenbau studiert. Bei Pioniernachmittagen trafen wir Studenten und deren Kinder. Nach der Wende ging der Kontakt leider verloren, aber über Facebook haben wir uns wiedergefunden.

 

Und warum eine Schneiderschule in Syrien?

 

Das ist einfach: weil es so etwas dort nicht gibt. Unser duales Ausbildungssystem mit Fachtheorie und Praxis sowie internationalem Abschluss ist so nicht bekannt; ich wäre der Erste, der diese Ausbildung anbietet. Ein Knopfloch von Hand zu sticken muss man eben lernen. Wirkliche Top-Qualität wird in Syrien bisher nicht hergestellt, obwohl diese bei Veranstaltungen wie der Latakia Fashion Week oder der Damaskus Fashion Week sehr wohl geschätzt wird. Die Menschen, die es sich leisten können, kleiden sich in Beirut ein. Eine Kombination aus Haute Couture, solidem deutschem Handwerk, hochqualitativer Handarbeit – und das alles nach dem Ausbildungssystem der deutschen Handwerkskammer – wäre die Grundlage dafür, auch in Syrien qualitativ hochwertige Mode nach internationalem Standard herstellen zu können. Eine qualifizierte Ausbildung ist damit konkrete Hilfe zur Selbsthilfe – für ein Land, das massiv unter dem Krieg und den westlichen Sanktionen,  und bedingt dadurch auch unter Bevölkerungsabwanderung leidet.

 

Also ist das für dich ein soziales Projekt?

 

Ja natürlich. Nur das. Der Luxus aus Hamburg, mein sehr repräsentatives Haus und die aufwendige Ausstattung waren notwendig, um dort die Top-Kunden zu gewinnen, die an derartiger Arbeit auch interessiert sind. Das ging nicht aus einem Hinterhof heraus. Mit dem Verkauf meines Besitzstandes und einigen Spenden werde ich mein Ausbildungsprojekt, die  Atelierschule, gründen und zunächst 8 bis 10 Schüler ausbilden.

 

Wo willst du denn die Schule aufbauen?

 

In einem Gebiet, das sich Golden Sand nennt – also im Raum Tartus, Latakia und Banias. Dort haben syrische Unternehmer, höhere Beamte und Regierungsmitglieder ihre Häuser, und auch reiche Perser, Araber und Russen sind dort angesiedelt. Eben genau die Menschen, die sich hochqualitative Mode leisten können. Schließlich soll sich die Schule irgendwann finanziell selbst tragen. Dafür muss es Kunden geben, meine Geldmittel werden auf Dauer nicht ausreichen.

 

Du hast Erfahrung mit der Ausbildung von jungen Menschen?

 

Ja. Ich habe in Hamburg Schüler, Praktikanten und Lehrlinge ausgebildet, und alle meine Lehrlinge hatten Top-Ergebnisse. In Hamburg gibt es Modefachschulen, für die die Schüler viel Geld bezahlen müssen – für einen Abschluss, der international nichts wert ist. Das möchte ich in Syrien nicht so handhaben. Meine Schüler werden kostenlos ausgebildet, zahlen also kein Schulgeld. Nach zwei Jahren verfügen sie dann über einen international anerkannten Berufsschulabschluss, mit dem sie entweder eine Anstellung bekommen oder sich selbständig machen können.

 

Hast du schon Lehrlinge in Aussicht?

 

Ich habe schon sehr viele Bewerbungen, bis jetzt sind es 40 Anfragen. Aber einen Schritt nach dem anderen: zunächst muss ich einen Standort für die Schule finden, die baulichen Regelungen umsetzen, die Genehmigungen seitens Bildungs- bzw. Wirtschaftsministerium einholen – der ganz normale bürokratische Prozess wie überall. Dann muss ich noch die Ausstattung – Nähmaschinen, Bügelanlagen usw. – beschaffen. Aufgrund von Transportkosten und Zoll ist es wesentlich günstiger, diese vor Ort in Syrien oder im Libanon neu oder gebraucht zu erwerben. Eine 1000 Euro teure Nähmaschine aus Deutschland verschlingt dank Steuer, Transport und Zoll nochmals den gleichen Betrag, bis sie in Syrien ist. In Syrien selbst oder im Libanon kann ich sie für 400 Euro kaufen.

 

Und wie soll sich die Schule auf Dauer finanzieren?

 

Es gibt drei Finanzierungssäulen. 1. Ich will meinen Atelierbetrieb für Maßanfertigungen wieder eröffnen. 2. Es wird einen schuleigenen Shop geben, in dem die Schüler eigene Entwürfe anfertigen, diese umsetzen und selbst präsentieren und verkaufen. Dessen Einnahmen fließen natürlich in die Schule. Die dritte Möglichkeit kann erst nach der Aufhebung der Sanktionen greifen: Die syrische Baumwolle ist weltweit die qualitativ hochwertigste, seit den Sanktionen jedoch auf dem Weltmarkt nicht mehr erhältlich. Mit dem Ende der Sanktionen werde ich eine hauseigene Kollektion daraus erstellen und diese Fairtrade verteiben. Aber das ist noch Zukunftsmusik.

 

Es ist ein radikaler Schritt, den du da gehst – kannst du dir ein Weiterleben in Deutschland nicht mehr vorstellen?

 

Nein. Undenkbar. Mir ist egal, unter welchen materiellen Umständen ich lebe. In Syrien wohne ich   zunächst im kleinen Gästehaus eines guten Freundes. Luxus brauche ich keinen. Möbel, Dinge – das ist alles ersetzbar. Menschen, Menschlichkeit ist viel wichtiger. Und Menschlichkeit, Gastfreundschaft und Herzlichkeit sind in Syrien viel ausgeprägter als in Deutschland, ähnlich wie ich es noch aus DDR-Zeiten kenne. Syrien war, ist eben immer noch mein Bruderstaat – und bald meine neue Heimat.

 

Ist die Lebenswirklichkeit in Syrien nicht sehr anders als in Europa? Wie sieht es mit anderen Lebensmodellen aus, z.B. Homosexualität?

 

Es gibt in Deutschland dazu völlig falsche Vorstellungen! Syrien ist kein islamischer, sondern ein säkularer Staat, genauso wie Deutschland. Zumindest in den Großstädten gibt es Bars und Clubs, in denen sich die syrische Gay- Community trifft, völlig unbehelligt. Man weiß es, aber man spricht nicht darüber. In Syrien stehen auch zumeist Moscheen und Kirchen dicht beieinander. Ich kenne Frauen mit offenen langen Haaren und Frauen mit Kopftuch. Sunniten, Alaviten, Christen, orthodox oder nicht, sie sitzen zusammen, spielen Schach – zwischendurch gehen sie beten – und dann spielen sie weiter Schach und trinken Kaffee … das ist alles völlig normal. Überall dort, wo der Daesh bzw. die laut westlichen Medien sogenannten „gemäßigten“ Islamisten zu finden sind, ist das anders. Aber sonst kann man überall frei leben, vielleicht freier als in Deutschland. Denn dass meine Facebook-Seite https://www.facebook.com/marco.glowatzki.3 immer wieder gesperrt wird, weil ich regelmäßig ein anderes Bild von Syrien vermittele, als es dem generellen Narrativ entspricht, ist in meinen Augen kein Zeichen von Freiheit.

 

Kann man dich unterstützen?

 

Auf jeden Fall würde ich mich über Spenden riesig freuen. Details dazu erhält man unter der atelier@mm-couture.com.

 

Viel Erfolg und Danke für dein Engagement!

Rüdiger Grosch

Geboren 1971 in Münster, wohnhaft in Berlin, von Beruf Künstler – Künstlername Rue de Guerre –  liebt seine Hunde und vieles, was mit Kunst zu tun hat: Schreiben, Musik machen, Filmen & Fotografie

 

Seit wann bist du in der Friedensbewegung aktiv?

 

Ich komme ursprünglich aus der Hausbesetzer-Szene, war Mitgründer des ersten autonomen Zentrums in Münster. Aufgrund der politisch rechten Einstellung meiner Mutter bin ich sehr früh in der linken Szene gelandet. Mein Protest hat mich in die Antifa geführt. Das System in Frage stellen und zu verändern hat eigentlich mein ganzes Leben geprägt. Ob man das Friedensbewegung nennen kann oder nicht, weiß ich nicht. Mit den Mahnwachen wurde das anders.

 

Du meinst die Friedensmahnwachen 2014?

 

Ja. Seit 2014 bin ich permanent und bewusst aktiv. Ich war seit der 2. Mahnwache in Berlin mit dabei, da es mir wichtig erschien, FÜR etwas zu demonstrieren. Ich war in der Orga-Gruppe am Alex aktiv und war im Team um Lars Mährholz als Fotograf und Filmemacher tätig. Auch heute unterstütze ich die Mahnwachen in Berlin und Potsdam noch, bin aber nicht jede Woche auf der Straße, da ich inzwischen auch viele Einzelaktionen unternehme oder Freunde bei ihren Projekten unterstütze.

 

D. h. du bist jetzt eher ein Einzelaktivist?

 

Ja, ich gehöre keiner Gruppe mehr an. In einer Friedensbewegung muss es alles geben. Wir wollen verändern, lassen aber innerhalb von Gruppen keine anderen Haltungen zu. Das führt zu Stillstand und bewegt nichts im Außen. In der Antifa gibt es hierarchische Strukturen. Ich bin Freigeist und Anarchist und da bin ich für viele wohl zu heftig.

 

Was heißt denn zu heftig?

 

Ich gehe Dialoge ein, die man in der Antifa nicht eingeht, weil es nicht in die Agenda passt. Ich gehe auf Nazi-Demos, nicht um Steine zu schmeißen sondern um  mit den Menschen zu sprechen. Mit einem Großteil der Rechten kann man Gespräche führen. Ob es etwas verändert, weiß ich nicht, aber nur hasserfüllt zu handeln bringt sicher nichts. Dann organisieren sich die Menschen im Untergrund. Noch sind viele Menschen besorgt und in Angst. Über Ängste muss man reden. Wenn Menschen besorgt sind, muss man sich mit den Sorgen auseinander setzen – sonst schlägt es auf uns zurück. Aber diese Dialogbereitschaft fehlt oft.

 

Warum?

 

Viele Menschen wollen ihr eigenes Denken durchdrücken, wollen, dass sich andere verändern. Die Selbstreflexion ist zu selten vorhanden. Das gilt leider für die meisten Bewegungen und Gruppen. Darum gehe ich überall hin, versuche zu vermitteln, mich und mein Denken weiter zu entwickeln.

 

Das klingt aber alles nicht nach einem Anarchisten, da denkt man doch meist an Straßenschlacht …

 

Anarchie hat mit Chaos nichts zu tun, sondern mit Selbstverantwortung. Wenn ich mir selbst gegenüber verantwortlich bin und darauf achte, dass es mir gut geht, muss ich mein Umfeld so gestalten, dass sich auch mein Umfeld wohl fühlt. Das mache ich nicht, indem ich Autos abfackele. Anarchie ist Empathie – der Gewaltgedanke wurde der Anarchie aufgedrückt.

 

Darum ist mein Wunsch an die Friedensaktivisten – und allen Menschen:  „Lasst immer eine Brücke entstehen“ – abgekürzt Liebe. Die Welt verändern kann nur, wer selbst gewaltfrei lebt. Alles andere ist Krieg. Dafür setze ich mich ein.

 

Was gehört zu deinen aktiven Projekten?

 

Den Winter 2017 und Frühjahr 2018 habe ich der Wanderausstellung „Sehen schützt vor Blindheit nicht“ gewidmet. Vor öffentlichen Gebäuden wie dem Reichstag, dem Kanzleramt oder Behörden in Berlin, aber auch anderen Städten zeigen wir denjenigen, die etwas verändern könnten, mit unseren 40 bis 60 Bildern, was die alltägliche Situation von Armen und Obdachlosen in unserem reichen Land bedeutet. Rentner kramen in Mülltonnen, Menschen müssen ihre wenigen Besitztümer in Büschen verstecken, die Notwendigkeit um Geld zu bitten. Die Bilder sollen auch das Bewusstsein schaffen, dass es jeden von uns treffen kann – und dass man etwas dagegen tun kann.

 

Was kann man denn tun? Als Einzelner?

 

Man kann sich Zeit nehmen, mit den Menschen zu sprechen, man kann einfach einen Apfel mehr kaufen. Man kann sie einfach anlächeln. Man kann sich in der Winterhilfe für Obdachlose engagieren und für Beschaffung und Verteilung von Spenden sorgen. Das tun wir am Alex. Fakt ist, die Politik könnte über das Steuersystem die Situation ändern, der Mittelstand zahlt über 50% Steuer, wirklich Reiche zahlen sehr viel weniger. Das ist für mich nicht verständlich. Denn es geht ja hier nicht um Luxusbedürfnisse. Es geht um das Notwendige. Notwendig ist, dass jeder ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen hat. Das sollte überall möglich sein. In anderen Ländern ist aufgrund fehlender Sozialsysteme, die bei uns noch einiges auffangen, die Situation noch krasser. Dahinter steckt eine Politik, die das Volk nicht vertritt, sondern zertritt. 

 

Warum liegt dir grade das Thema am Herzen?

 

Ich war selbst 10 Jahre obdachlos,  bin mit 14 von Zuhause ausgezogen und mit 17 aus dem Heim geflogen. Das Jugendamt war nicht mehr zuständig, weder in Münster noch in Berlin, wo ich 1990 zunächst gestrandet bin. Freunde und Bekannte haben mir dann die Familie ersetzt, sich liebevoll um mich gekümmert und dafür gesorgt, dass ich den Weg zurück von der Straße in ein geregeltes Leben fand. Diese praktische Erfahrung möchte ich anderen Menschen näher bringen.

 

Und das vermittelst du in deiner Kunst jetzt?

 

Ich bin auf der Straße groß geworden, daher ist die Straße auch mein Thema. Ob Punk, Drogen – ich war 5 Jahre abhängig – oder Obdachlosigkeit: Meine Kunst ist authentisch, wenn ich authentisch bleibe. Zur High Society gehöre ich nicht.

 

Verkaufst du wenigstens deine Bilder an die High Society?

 

Nein. Ich verkaufe meine Kunst nicht – ich möchte meine Seele nicht verkaufen, meine Seele sind meine Bilder. Da mich der Amtsarzt arbeitsunfähig erklärt hat, bekomme ich GRUSI. Ich darf nicht arbeiten, obwohl ich das gerne würde. Aber so tauche ich nicht in der Arbeitslosenstatistik auf.

 

Ich mache verschiedene Projekte, auch in Schulen, aber ich werde von den Behörden nicht gefördert, um mich weiterzubilden. Meine Fähigkeiten werden einfach ausgegrenzt. Sie werden nicht benötigt. Wenn ich Bilder weitergebe, freue ich mich über das Lächeln im Gesicht meines Gegenübers – mehr will ich eigentlich gar nicht – und so versuche ich mit Menschen umzugehen. Mit allen Menschen.

 

Das verstehst du unter Frieden leben?

 

Ja. Ich versuche es. Zuzusehen, dass man sein Gegenüber so glücklich macht, wie man selbst sein möchte, das kann eine Kettenreaktion unter den Menschen auslösen. Wer sich ständig mit Scheiße beschäftigt, wird irgendwann selbst dazu. Mir ist es ein Anliegen, das Positive hervorzuheben und durch mein Tun zur positiven Veränderung beizutragen.

 

Danke!

Wir sind Frieden

Von Published On: 11. März 2018Kategorien: Allgemein

Auf den ersten Blick verbindet einen IT-Kaufmann und Unternehmensberater,  einen Mode-Schneider und einen Künstler aus der Hausbesetzerszene eher wenig. Ob Alter,  Wohnort oder Hobbys – nichts scheint den Dreien gemeinsam zu sein. Es ist der Wunsch, selbst aktiv zu einer friedlicheren Welt beizutragen, der sie vorantreibt und motiviert. Dieses intensive Engagement prägt ihr tagtägliches Handeln.

Paul Ettl

Geboren 1955 in Aschach an der Donau in Oberösterreich, wohnhaft in Linz, Mathematik-Studium. IT-Kaufmann & Unternehmensberater und Familienvater mit Tochter, der sich mit Modelleisenbahn und Ahnenforschung beschäftigt.

 

Wie kommst du zum Thema Frieden?

 

Seit meiner Jugend und besonders in der Studienzeit haben mich politische Themen umgetrieben. Darum habe ich neben dem Studium der Mathematik auch Politik & Philosophie belegt. So nahm ich an der Universität Salzburg Anfang der achtziger Jahre an einem der ersten Projekte im Bereich Friedensforschung teil. In den Jahren darauf blieb ich aktiv und wurde Mitglied und Mitwirkender der Universal Peace Federation (UPF) – einer internationalen Organisation. Auch in der Zeit, in der ich als Unternehmer eine eigene IT-Firma leitete, war mir die Friedensforschung immer ein wichtiges Anliegen.

 

Und seit wann bist du Vollzeit aktiv in der Friedensbewegung?

 

2010 beschloss ich, mein Leben nochmals zu verändern: ein anderer Weg, ein anderer Schwerpunkt als die IT. Angeregt durch eine Friedenskonferenz in Jerusalem, an der ich im August 2010 teilnahm, entstand die Idee der Friedensakademie in Linz. Im November gründete ich gemeinsam mit einigen Freunden den Verein, bereits 2011 führten wir erste Veranstaltungen durch.

 

Wofür steht die Friedensakademie?

 

Frieden ist für mich nicht das Gegenteil von Krieg, sondern das Gegenteil von Unfrieden. Es geht uns daher um den Frieden im Einzelnen, Frieden in der Familie, friedliche Beziehungen zwischen den Religionen und eine wertschätzende, friedliche Wirtschaft, die nicht auf Gier, Neid und Angst, sondern auf Kooperation, Wertschätzung und Gemeinwohlorientierung aufbaut. Der politisch-militärische Aspekt wird angesprochen, ist aber kein Schwerpunkt. Es gibt zahlreiche Gruppen und Initiativen, die sich mit dem politischen Frieden beschäftigen. Uns geht es um nachhaltige Friedensgestaltung. Dazu veranstalten wir Vorträge, Filmabende, Seminare, Workshops und Exkursionen.  Seit November 2016 ist die Friedensakademie mit dem Qualitätssiegel für Erwachsenenbildung zertifiziert. Aktuell liegt unser Fokus auf einem Lehrgang für nachhaltige Friedensgestaltung. Umfassende Informationen findet man natürlich auf unserer Webseite.

 

Kann man von Friedensarbeit leben?

 

Nein. Ich mache das ehrenamtlich. Ich habe meine Firma verkauft, um meine Friedensarbeit bis zur Pensionsberechtigung im Jahr 2020 zu finanzieren.

 

Warum machst du das?

 

Frieden ist mir ein Herzensanliegen – und während meiner unternehmerischen Tätigkeit habe ich die Bedeutung einer werteorientierten Wirtschaft als eine der wichtigen Grundlagen erkannt. Das versuche ich auch persönlich in meinen unterschiedlichen Tätigkeiten zu vermitteln.

 

Bist du auch in anderen Organisationen tätig?

 

Oh ja. Ich engagiere mich im Bereich der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ), bei WIR GEMEINSAM, einem Tauschkreis mit zeitbasierter Alternativwährung, bei Aktionen für das bedingungslose Grundeinkommen und für die Bank für Gemeinwohl. Mit diesen Projekten haben wir auch Kooperationen mit der Friedensakademie, und die Treffen der Regionalgruppen finden oft in unseren Räumlichkeiten statt.

 

Als offizieller Referent der GWÖ halte ich einen bis zwei Vorträge pro Monat, für Unternehmer, an Universitäten und Schulen und letzthin bei einem Lehrerfortbildungskongress in Bayern. Betriebe weise ich auf die Möglichkeiten und Chancen der Gemeinwohl-Bilanz hin und kümmere mich um die Vernetzung in Oberösterreich.

 

Ich habe den Eindruck, dass du sehr breit vernetzt bist

 

Ja, ich versuche überall dort vertreten zu sein, wo es um nachhaltiges und friedliches Wirtschaften geht. Und das bedeutet, nicht nur in der alternativen Szene aktiv zu sein, sondern auch im „normalen“ System. So bin ich in der Lage, Brücken zwischen den verschiedenen Welten zu bauen.

 

Brücken zwischen Friedensaktivismus und Wirtschaftskammer?

 

Ja genau. Als Unternehmer war ich in der Wirtschaftskammer in verschiedenen Funktionen tätig. 2016 und 2017 war ich dann oberösterreichischer Landessprecher der CSR-Consultants Expert Group in der WKO Österreich. Für manche Leute in der Wirtschaftskammer ist die Gemeinwohl-Ökonomie – noch – ein rotes Tuch, der Kommunismus in Reinkultur. Gleichzeitig arbeitet ein großer Anteil der meist familiengeführten Unternehmen in Österreich bereits nachhaltig und gemeinwohl-orientiert, da sie ihren Betrieb auch für die Kinder und Enkel erhalten wollen und die Verantwortung in der Gemeinde/Kommune wahrnehmen. Dadurch, dass ich sowohl als Unternehmer als auch als Vertreter der Gemeinwohl-Ökonomie bekannt bin, kann ich diese Welten zusammenführen – speziell dort, wo es um Werte geht.

 

Welchen Stellenwert haben denn Werte?

 

In familiengeführten Unternehmen spielen Werte eine viel größere Rolle als in managergeführten Unternehmen, die primär an Quartalszahlen orientiert agieren. In einem Konzern ist eine Investition in Maschinen fast immer etwas positives. Sie wird im Anlageverzeichnis der Bilanz erkennbar dargestellt. Für die Investition in Menschen gilt das nicht. Im Gegenteil. Fördert man die Qualifikation der Mitarbeiter durch Schulungen, schmälert das sogar den Gewinn. Die höhere Qualifikation ist in einer normalen Bilanz nicht sichtbar. Diese nicht-monetären Werte einer Firma sind aber entscheidend für ein nachhaltig ausgerichtetes Wirtschaften. Wie kann man sie darstellen? Dieses Thema hat mich schon seit fast zehn Jahren umgetrieben. Dann traf ich Christian Felber, den Begründer der GWÖ. Die in seinem Buch „Gemeinwohl-Ökonomie“ vorgeschlagene Gemeinwohl-Bilanz scheint mir da die passende Lösung. Werteorientiertes Wirtschaften als Grundlage einer friedlichen Gesellschaft war auch einer der Gründe, dass es zur Gründung der Friedensakademie kam.

 

Inwiefern?

 

Ich bin ja Unternehmer und halte den Frieden in der Wirtschaft für enorm wichtig. Das Thema einer werteorientierten, friedlichen Wirtschaft wurde von  anderen Friedensorganisationen aber bisher nicht vertreten. Mein MBA-Studium habe ich 2012 mit einer Masterarbeit mit dem Titel „Die Bilanz der Zukunft? Menschliche Werte in Unternehmen und Gemeinwohl-Bilanz“ abgeschlossen. Diese ist inzwischen auch im deutschen GRIN-Verlag als Buch erschienen. Die Arbeit daran hat mir erneut bestätigt, wie wichtig eine werteorientierte Wirtschaft für den Frieden ist.

 

Wo kann man sich ausführlicher informieren?

 

Auf der Webseite der Friedensakademie www.friedensakademie.at gibt es umfassende Informationen zu allen unseren  Themenschwerpunkten, Infos über die Gemeinwohl-Ökonomie findet man auf www.ecogood.org.

 

Danke für deine Zeit & dein Engagement für den Frieden!

Marco Glowatzki

Geboren 1972 in Crivitz bei Schwerin, gelernter Damen- und Herrenschneidermeister seit 2003 mit eigenem Maßatelier, bis November 2017 wohnhaft in Hamburg, jetzt in Syrien. Das Interview wurde wenige Wochen vor seiner Abreise geführt, wird aber erst jetzt veröffentlicht, da er keine Probleme bei der Ausreise bekommen sollte.

 

Du gehst nach Syrien?

 

Ja. Momentan löse ich meine Firma und meinen Hausstand in Hamburg auf, verkaufe also meinen gesamten Besitzstand in Deutschland, um an der Westküste mit dem Geld eine Atelierschule für Schneider aufzubauen.

 

Wie kommt man dazu, in Syrien eine Schule zu eröffnen?

 

Die Gründe sind vielschichtig. Ich kenne Syrien schon seit Jahren, war oft da – das erste Mal in den 90iger Jahren, das letzte Mal von Dezember 2016 bis Januar 2017. Früher konnte man noch direkt von Hamburg nach Latakia fliegen. Ich habe viele Freunde dort, und bei meiner letzten Reise entstand dann der Plan, dass ich auf Dauer nach Syrien gehen werde. Die Schule ist meine Möglichkeit, etwas zu einer friedlichen Zukunft im Land beizutragen.

 

Persönliche Kontakte nach Syrien sind ja eher selten. Wie kam es bei dir dazu?

 

Das ist ein Relikt der DDR-Zeit. Bei uns gab es zahlreiche ausländische Studenten, viele davon aus Syrien. Der Vater meines besten Freundes hat in Dresden Maschinenbau studiert. Bei Pioniernachmittagen trafen wir Studenten und deren Kinder. Nach der Wende ging der Kontakt leider verloren, aber über Facebook haben wir uns wiedergefunden.

 

Und warum eine Schneiderschule in Syrien?

 

Das ist einfach: weil es so etwas dort nicht gibt. Unser duales Ausbildungssystem mit Fachtheorie und Praxis sowie internationalem Abschluss ist so nicht bekannt; ich wäre der Erste, der diese Ausbildung anbietet. Ein Knopfloch von Hand zu sticken muss man eben lernen. Wirkliche Top-Qualität wird in Syrien bisher nicht hergestellt, obwohl diese bei Veranstaltungen wie der Latakia Fashion Week oder der Damaskus Fashion Week sehr wohl geschätzt wird. Die Menschen, die es sich leisten können, kleiden sich in Beirut ein. Eine Kombination aus Haute Couture, solidem deutschem Handwerk, hochqualitativer Handarbeit – und das alles nach dem Ausbildungssystem der deutschen Handwerkskammer – wäre die Grundlage dafür, auch in Syrien qualitativ hochwertige Mode nach internationalem Standard herstellen zu können. Eine qualifizierte Ausbildung ist damit konkrete Hilfe zur Selbsthilfe – für ein Land, das massiv unter dem Krieg und den westlichen Sanktionen,  und bedingt dadurch auch unter Bevölkerungsabwanderung leidet.

 

Also ist das für dich ein soziales Projekt?

 

Ja natürlich. Nur das. Der Luxus aus Hamburg, mein sehr repräsentatives Haus und die aufwendige Ausstattung waren notwendig, um dort die Top-Kunden zu gewinnen, die an derartiger Arbeit auch interessiert sind. Das ging nicht aus einem Hinterhof heraus. Mit dem Verkauf meines Besitzstandes und einigen Spenden werde ich mein Ausbildungsprojekt, die  Atelierschule, gründen und zunächst 8 bis 10 Schüler ausbilden.

 

Wo willst du denn die Schule aufbauen?

 

In einem Gebiet, das sich Golden Sand nennt – also im Raum Tartus, Latakia und Banias. Dort haben syrische Unternehmer, höhere Beamte und Regierungsmitglieder ihre Häuser, und auch reiche Perser, Araber und Russen sind dort angesiedelt. Eben genau die Menschen, die sich hochqualitative Mode leisten können. Schließlich soll sich die Schule irgendwann finanziell selbst tragen. Dafür muss es Kunden geben, meine Geldmittel werden auf Dauer nicht ausreichen.

 

Du hast Erfahrung mit der Ausbildung von jungen Menschen?

 

Ja. Ich habe in Hamburg Schüler, Praktikanten und Lehrlinge ausgebildet, und alle meine Lehrlinge hatten Top-Ergebnisse. In Hamburg gibt es Modefachschulen, für die die Schüler viel Geld bezahlen müssen – für einen Abschluss, der international nichts wert ist. Das möchte ich in Syrien nicht so handhaben. Meine Schüler werden kostenlos ausgebildet, zahlen also kein Schulgeld. Nach zwei Jahren verfügen sie dann über einen international anerkannten Berufsschulabschluss, mit dem sie entweder eine Anstellung bekommen oder sich selbständig machen können.

 

Hast du schon Lehrlinge in Aussicht?

 

Ich habe schon sehr viele Bewerbungen, bis jetzt sind es 40 Anfragen. Aber einen Schritt nach dem anderen: zunächst muss ich einen Standort für die Schule finden, die baulichen Regelungen umsetzen, die Genehmigungen seitens Bildungs- bzw. Wirtschaftsministerium einholen – der ganz normale bürokratische Prozess wie überall. Dann muss ich noch die Ausstattung – Nähmaschinen, Bügelanlagen usw. – beschaffen. Aufgrund von Transportkosten und Zoll ist es wesentlich günstiger, diese vor Ort in Syrien oder im Libanon neu oder gebraucht zu erwerben. Eine 1000 Euro teure Nähmaschine aus Deutschland verschlingt dank Steuer, Transport und Zoll nochmals den gleichen Betrag, bis sie in Syrien ist. In Syrien selbst oder im Libanon kann ich sie für 400 Euro kaufen.

 

Und wie soll sich die Schule auf Dauer finanzieren?

 

Es gibt drei Finanzierungssäulen. 1. Ich will meinen Atelierbetrieb für Maßanfertigungen wieder eröffnen. 2. Es wird einen schuleigenen Shop geben, in dem die Schüler eigene Entwürfe anfertigen, diese umsetzen und selbst präsentieren und verkaufen. Dessen Einnahmen fließen natürlich in die Schule. Die dritte Möglichkeit kann erst nach der Aufhebung der Sanktionen greifen: Die syrische Baumwolle ist weltweit die qualitativ hochwertigste, seit den Sanktionen jedoch auf dem Weltmarkt nicht mehr erhältlich. Mit dem Ende der Sanktionen werde ich eine hauseigene Kollektion daraus erstellen und diese Fairtrade verteiben. Aber das ist noch Zukunftsmusik.

 

Es ist ein radikaler Schritt, den du da gehst – kannst du dir ein Weiterleben in Deutschland nicht mehr vorstellen?

 

Nein. Undenkbar. Mir ist egal, unter welchen materiellen Umständen ich lebe. In Syrien wohne ich   zunächst im kleinen Gästehaus eines guten Freundes. Luxus brauche ich keinen. Möbel, Dinge – das ist alles ersetzbar. Menschen, Menschlichkeit ist viel wichtiger. Und Menschlichkeit, Gastfreundschaft und Herzlichkeit sind in Syrien viel ausgeprägter als in Deutschland, ähnlich wie ich es noch aus DDR-Zeiten kenne. Syrien war, ist eben immer noch mein Bruderstaat – und bald meine neue Heimat.

 

Ist die Lebenswirklichkeit in Syrien nicht sehr anders als in Europa? Wie sieht es mit anderen Lebensmodellen aus, z.B. Homosexualität?

 

Es gibt in Deutschland dazu völlig falsche Vorstellungen! Syrien ist kein islamischer, sondern ein säkularer Staat, genauso wie Deutschland. Zumindest in den Großstädten gibt es Bars und Clubs, in denen sich die syrische Gay- Community trifft, völlig unbehelligt. Man weiß es, aber man spricht nicht darüber. In Syrien stehen auch zumeist Moscheen und Kirchen dicht beieinander. Ich kenne Frauen mit offenen langen Haaren und Frauen mit Kopftuch. Sunniten, Alaviten, Christen, orthodox oder nicht, sie sitzen zusammen, spielen Schach – zwischendurch gehen sie beten – und dann spielen sie weiter Schach und trinken Kaffee … das ist alles völlig normal. Überall dort, wo der Daesh bzw. die laut westlichen Medien sogenannten „gemäßigten“ Islamisten zu finden sind, ist das anders. Aber sonst kann man überall frei leben, vielleicht freier als in Deutschland. Denn dass meine Facebook-Seite https://www.facebook.com/marco.glowatzki.3 immer wieder gesperrt wird, weil ich regelmäßig ein anderes Bild von Syrien vermittele, als es dem generellen Narrativ entspricht, ist in meinen Augen kein Zeichen von Freiheit.

 

Kann man dich unterstützen?

 

Auf jeden Fall würde ich mich über Spenden riesig freuen. Details dazu erhält man unter der atelier@mm-couture.com.

 

Viel Erfolg und Danke für dein Engagement!

Rüdiger Grosch

Geboren 1971 in Münster, wohnhaft in Berlin, von Beruf Künstler – Künstlername Rue de Guerre –  liebt seine Hunde und vieles, was mit Kunst zu tun hat: Schreiben, Musik machen, Filmen & Fotografie

 

Seit wann bist du in der Friedensbewegung aktiv?

 

Ich komme ursprünglich aus der Hausbesetzer-Szene, war Mitgründer des ersten autonomen Zentrums in Münster. Aufgrund der politisch rechten Einstellung meiner Mutter bin ich sehr früh in der linken Szene gelandet. Mein Protest hat mich in die Antifa geführt. Das System in Frage stellen und zu verändern hat eigentlich mein ganzes Leben geprägt. Ob man das Friedensbewegung nennen kann oder nicht, weiß ich nicht. Mit den Mahnwachen wurde das anders.

 

Du meinst die Friedensmahnwachen 2014?

 

Ja. Seit 2014 bin ich permanent und bewusst aktiv. Ich war seit der 2. Mahnwache in Berlin mit dabei, da es mir wichtig erschien, FÜR etwas zu demonstrieren. Ich war in der Orga-Gruppe am Alex aktiv und war im Team um Lars Mährholz als Fotograf und Filmemacher tätig. Auch heute unterstütze ich die Mahnwachen in Berlin und Potsdam noch, bin aber nicht jede Woche auf der Straße, da ich inzwischen auch viele Einzelaktionen unternehme oder Freunde bei ihren Projekten unterstütze.

 

D. h. du bist jetzt eher ein Einzelaktivist?

 

Ja, ich gehöre keiner Gruppe mehr an. In einer Friedensbewegung muss es alles geben. Wir wollen verändern, lassen aber innerhalb von Gruppen keine anderen Haltungen zu. Das führt zu Stillstand und bewegt nichts im Außen. In der Antifa gibt es hierarchische Strukturen. Ich bin Freigeist und Anarchist und da bin ich für viele wohl zu heftig.

 

Was heißt denn zu heftig?

 

Ich gehe Dialoge ein, die man in der Antifa nicht eingeht, weil es nicht in die Agenda passt. Ich gehe auf Nazi-Demos, nicht um Steine zu schmeißen sondern um  mit den Menschen zu sprechen. Mit einem Großteil der Rechten kann man Gespräche führen. Ob es etwas verändert, weiß ich nicht, aber nur hasserfüllt zu handeln bringt sicher nichts. Dann organisieren sich die Menschen im Untergrund. Noch sind viele Menschen besorgt und in Angst. Über Ängste muss man reden. Wenn Menschen besorgt sind, muss man sich mit den Sorgen auseinander setzen – sonst schlägt es auf uns zurück. Aber diese Dialogbereitschaft fehlt oft.

 

Warum?

 

Viele Menschen wollen ihr eigenes Denken durchdrücken, wollen, dass sich andere verändern. Die Selbstreflexion ist zu selten vorhanden. Das gilt leider für die meisten Bewegungen und Gruppen. Darum gehe ich überall hin, versuche zu vermitteln, mich und mein Denken weiter zu entwickeln.

 

Das klingt aber alles nicht nach einem Anarchisten, da denkt man doch meist an Straßenschlacht …

 

Anarchie hat mit Chaos nichts zu tun, sondern mit Selbstverantwortung. Wenn ich mir selbst gegenüber verantwortlich bin und darauf achte, dass es mir gut geht, muss ich mein Umfeld so gestalten, dass sich auch mein Umfeld wohl fühlt. Das mache ich nicht, indem ich Autos abfackele. Anarchie ist Empathie – der Gewaltgedanke wurde der Anarchie aufgedrückt.

 

Darum ist mein Wunsch an die Friedensaktivisten – und allen Menschen:  „Lasst immer eine Brücke entstehen“ – abgekürzt Liebe. Die Welt verändern kann nur, wer selbst gewaltfrei lebt. Alles andere ist Krieg. Dafür setze ich mich ein.

 

Was gehört zu deinen aktiven Projekten?

 

Den Winter 2017 und Frühjahr 2018 habe ich der Wanderausstellung „Sehen schützt vor Blindheit nicht“ gewidmet. Vor öffentlichen Gebäuden wie dem Reichstag, dem Kanzleramt oder Behörden in Berlin, aber auch anderen Städten zeigen wir denjenigen, die etwas verändern könnten, mit unseren 40 bis 60 Bildern, was die alltägliche Situation von Armen und Obdachlosen in unserem reichen Land bedeutet. Rentner kramen in Mülltonnen, Menschen müssen ihre wenigen Besitztümer in Büschen verstecken, die Notwendigkeit um Geld zu bitten. Die Bilder sollen auch das Bewusstsein schaffen, dass es jeden von uns treffen kann – und dass man etwas dagegen tun kann.

 

Was kann man denn tun? Als Einzelner?

 

Man kann sich Zeit nehmen, mit den Menschen zu sprechen, man kann einfach einen Apfel mehr kaufen. Man kann sie einfach anlächeln. Man kann sich in der Winterhilfe für Obdachlose engagieren und für Beschaffung und Verteilung von Spenden sorgen. Das tun wir am Alex. Fakt ist, die Politik könnte über das Steuersystem die Situation ändern, der Mittelstand zahlt über 50% Steuer, wirklich Reiche zahlen sehr viel weniger. Das ist für mich nicht verständlich. Denn es geht ja hier nicht um Luxusbedürfnisse. Es geht um das Notwendige. Notwendig ist, dass jeder ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen hat. Das sollte überall möglich sein. In anderen Ländern ist aufgrund fehlender Sozialsysteme, die bei uns noch einiges auffangen, die Situation noch krasser. Dahinter steckt eine Politik, die das Volk nicht vertritt, sondern zertritt. 

 

Warum liegt dir grade das Thema am Herzen?

 

Ich war selbst 10 Jahre obdachlos,  bin mit 14 von Zuhause ausgezogen und mit 17 aus dem Heim geflogen. Das Jugendamt war nicht mehr zuständig, weder in Münster noch in Berlin, wo ich 1990 zunächst gestrandet bin. Freunde und Bekannte haben mir dann die Familie ersetzt, sich liebevoll um mich gekümmert und dafür gesorgt, dass ich den Weg zurück von der Straße in ein geregeltes Leben fand. Diese praktische Erfahrung möchte ich anderen Menschen näher bringen.

 

Und das vermittelst du in deiner Kunst jetzt?

 

Ich bin auf der Straße groß geworden, daher ist die Straße auch mein Thema. Ob Punk, Drogen – ich war 5 Jahre abhängig – oder Obdachlosigkeit: Meine Kunst ist authentisch, wenn ich authentisch bleibe. Zur High Society gehöre ich nicht.

 

Verkaufst du wenigstens deine Bilder an die High Society?

 

Nein. Ich verkaufe meine Kunst nicht – ich möchte meine Seele nicht verkaufen, meine Seele sind meine Bilder. Da mich der Amtsarzt arbeitsunfähig erklärt hat, bekomme ich GRUSI. Ich darf nicht arbeiten, obwohl ich das gerne würde. Aber so tauche ich nicht in der Arbeitslosenstatistik auf.

 

Ich mache verschiedene Projekte, auch in Schulen, aber ich werde von den Behörden nicht gefördert, um mich weiterzubilden. Meine Fähigkeiten werden einfach ausgegrenzt. Sie werden nicht benötigt. Wenn ich Bilder weitergebe, freue ich mich über das Lächeln im Gesicht meines Gegenübers – mehr will ich eigentlich gar nicht – und so versuche ich mit Menschen umzugehen. Mit allen Menschen.

 

Das verstehst du unter Frieden leben?

 

Ja. Ich versuche es. Zuzusehen, dass man sein Gegenüber so glücklich macht, wie man selbst sein möchte, das kann eine Kettenreaktion unter den Menschen auslösen. Wer sich ständig mit Scheiße beschäftigt, wird irgendwann selbst dazu. Mir ist es ein Anliegen, das Positive hervorzuheben und durch mein Tun zur positiven Veränderung beizutragen.

 

Danke!