Vortrag

„Warum schweigen die Lämmer?“

Der berühmte Vortrag von Rainer Mausfeld zu den Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements zum Nachlesen: Moralisch unsichtbar sind Verletzungen moralischer Normen, wenn sie zwar als Fakten sichtbar sind, jedoch in einen Kontext eingebettet sind, der verhindert, dass sie in der Bevölkerung ein moralisches Unbehagen oder Empörung auslösen. Ein Beispiel sind die gesellschaftlichen und humanitären Folgen der mit der neoliberalen Wirtschaftsordnung einhergehenden strukturellen Gewalt, wie sie vor allem in der sog. ‚Dritten Welt‘, doch zunehmend auch in den westlichen Industrieländern sichtbar werden.

Von Published On: 17. Februar 2019Kategorien: Gesellschaft & Geschichte

Der Vortrag von Rainer Mausfeld wurde zuerst von Reiner Heyse als Videomitschnitt auf Youtube unter der URL https://youtu.be/Rx5SZrOsb6M veröffentlicht.

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Professor Mausfeld bot in seinem berühmten Vortrag an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel vom 22. Juni 2015, der als moderner Aufklärungsklassiker gilt, anhand von vielen Beispielen einen Einblick in die tatsächliche Verwaltung unserer Demokratie und wie mit den Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements die Menschen in Apathie und der Illusion des Informiertseins gehalten werden.

Wie einer der Kommentatoren des damaligen Videomitschnitts des Vortrages auf Youtube schrieb, „Etwas trocken im Anbiss, aber kernig und gehaltvoll beim Kauen …“ oder ein anderer „Das sollte man allen Realitätsverweigerern unter die Nase reiben. Die Perfidität hat System.“

 

Prof. Mausfeld hatte damals unser Transkript komplett überarbeitet und Free21 die nachfolgende lesefreundliche Fassung zur Verfügung gestellt:

Vortrag von Prof. Dr. Rainer Mausfeld „Warum schweigen die Lämmer?“

Moralisch unsichtbar sind Verletzungen moralischer Normen, wenn sie zwar als Fakten sichtbar sind, jedoch in einen Kontext eingebettet sind, der verhindert, dass sie in der Bevölkerung ein moralisches Unbehagen oder Empörung auslösen. Ein Beispiel sind die gesellschaftlichen und humanitären Folgen der mit der neoliberalen Wirtschaftsordnung einhergehenden strukturellen Gewalt, wie sie vor allem in der sog. „Dritten Welt“, doch zunehmend auch in den westlichen Industrieländern sichtbar werden.

Kognitiv unsichtbar sind Verletzungen moralischer Normen, wenn sie zwar als Fakten sichtbar sind, jedoch in einen Kontext eingebettet sind, der verhindert, dass Schlußfolgerungen aus ihnen gezogen werden. Insbesondere werden in derartigen Fällen keine Beziehungen zu vergleichbaren Fällen hergestellt, die von den jeweiligen Eliten nach gänzlich anderen Kriterien bewertet werden. Ein Beispiel sind die sog. gezielten Tötungen („targeted killings“) von Personen, die von einem Staat als Sicherheitsrisiko angesehen werden. Derartige Morde stellen einen klaren Bruch des Völkerrechts dar und würden in vergleichbarer Weise nicht akzeptiert, wenn sie von Staaten durchgeführt würden, die von „uns“ als „Gegner“ angesehen werden.

Die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Fakten wird wesentlich durch die Massenmedien vermittelt, die neben den Fakten in der Regel auch den gewünschten Interpretationskontext und damit das „politische Weltbild“ vermitteln. Das Thema gehört also zu unserem gesellschaftlichen Lebensalltag und geht uns alle an. Die Fragen, die sich hierbei stellen, sind grundlegender und zumeist recht elementarer Natur. Für die Auseinandersetzung mit ihnen benötigt man kein Expertenwissen, auch wenn die herrschenden Eliten sich bemühen, Diskurse über derartige Themen auf Gruppen „geeigneter Experten“ zu beschränken. Für Themen, die uns alle als Citoyens angehen, also als Bürger, die sich im Geiste der Aufklärung um die Gestaltung unseres Gemeinwesens bemühen, sind wir von Natur aus mit einem natürlichen Vermögen unseres Geistes ausgestattet, einem „Licht der Vernunft“ – einem lumen naturale, wie man es in der Aufklärung nannte. Den wesentlichen Kern der Fragen, um die es bei unseren Themen geht, können wir also auch ohne eine Spezialistenausbildung behandeln. Und darum soll es in diesem Vortrag gehen.

 

 

Zu dem natürlichen Vermögen unseres Geistes gehört die Befähigung, die Begrifflichkeiten zu hinterfragen, mit denen man im gesellschaftlich-politischen Bereich Phänomene und Fakten kategorisiert, ordnet und bewertet. Prominentes Beispiel ist der neoliberale Neusprech zur Verhüllung und Verdeckung des tatsächlich Gemeinten, mit dem man leicht ein Orwellsches Neusprech-Wörterbuch füllen könnte. Hierzu gehören Begriffe wie Strukturreformen, Reformwille, Bürokratieabbau, Deregulierung, Stabilitätspakt, Austerität, Euro-Rettungsschirm, freier Markt, schlanker Staat, Liberalisierung, Harmonisierung, marktkonforme Demokratie, alternativlos, Humankapital, Leiharbeit, Lohnnebenkosten, Sozialneid, Leistungsträger, etc. etc. Derartige Begriffe transportieren ideologische Weltbilder, deren totalitären Charakter es aufzudecken und zu benennen gilt. Damit wir diesen ideologischen Weltbildern nicht unbewußt und ungewollt erliegen, müssen wir die stillschweigenden Prämissen, Vorurteile und ideologischen Komponenten in der Begrifflichkeit, in der wir über gesellschaftlich-politische Phänomene sprechen, identifizieren und bewußt machen. Auch für diese Tätigkeit benötigen wir kein Expertenwissen. Hierfür sind wir alle von Natur durch das natürliche Vermögen unseres Geistes ausgestattet, auch wenn es dies zu üben und zu verfeinern gilt.

Wir wollen hier also versuchen, einige stillschweigende Prämissen und ideologischer Komponenten zu identifizieren, die sich in der Begrifflichkeit verbergen, mit der in demokratischen Gesellschaften die jeweils herrschenden Eliten ihre Macht zu stabilisieren suchen. Zuvor möchte ich jedoch das, worum es beim Problem des Unsichtbarmachens von Fakten geht, mit einem Wahrnehmungsphänomen illustrieren.

In diesem Bild sehen wir etwas, das wir vermutlich als Fragmente von Objekten wahrnehmen, ohne dass wir hier den tatsächlichen Bedeutungszusammenhang dieser Fragmente erkennen können. Warum ist hier der Bedeutungszusammenhang unsichtbar? Die Antwort, die die Wahrnehmungspsychologie hierzu gibt, besagt im wesentlichen, dass das Wahrnehmungssystem seine Bedeutungskategorien solange nicht zur Anwendung bringen kann, solange die Fragmentierungsursache selbst nicht erkennbar ist. Sobald man – bei exakt gleichgebliebenen Objektfragmenten – die Ursache sichtbar macht, durch die die Objekte fragmentiert sind, können wir mühelos das Verdeckte ergänzen und den Sinnzusammenhang erkennen. Hierin zeigt sich eine allgemeine Gesetzmäßigkeit des Psychischen, die auch bei unserem Thema von Interesse ist. Ein Sinnzusammenhang von Fakten läßt sich durch eine fragmentierte Darbietung gleichsam unsichtbar machen. Wir nehmen dann, wie in der Regel beim Lesen einer Tageszeitung, nicht mehr als eine Ansammlung isolierter Informationsfragmente wahr. Sobald jedoch bei einer Fragmentierung von Informationen die Ursache der Fragmentierung erkennbar wird, haben wir keine Schwierigkeiten, den Bedeutungszusammenhang zu erkennen.

Das Paradoxon der Demokratie

Bei unserem Thema geht es also auch darum, warum man oder wie man durch Fragmentierung Sachverhalte unsichtbar machen kann. Das führt direkt zu der Frage, wer will Sachverhalte unsichtbar machen und wer will Sachverhalte für wen unsichtbar machen? Um diese Frage zu verstehen, müssen wir mit etwas beginnen, das oft als „Paradoxon der Demokratie“ bezeichnet wird, nämlich mit einem Problem der Beziehung von Eliten und Volk. Die systematische Untersuchung dieses Problems geht bis in die Antike zurück. Im politischen Diskurs wird das Volk oftmals mit einer Herde verglichen, mit einer Herde, die zu irrationalen Affekten neige und die es folglich zu kontrollieren gelte. Für die politische Führung eines Volkes sei es daher wichtig, das Schweigen der Herde zu interpretieren und im Sinne ihres politischen Handelns zu deuten. In neuer Zeit ist dieses Thema ist vor allem durch Richard Nixon populär geworden, der seinerzeit das Schweigen der „silent majority“ als Zustimmung zum Vietnamkrieg gedeutet hat.

 

 

Der griechische Historiker Thukydides (454–399 v.u.Z) war der erste, der sich in systematischer Weise mit diesen Fragen beschäftigt hat. Thukydides war auch der erste, der die enge Beziehung zwischen unseren Vorstellungen über Regierungsformen und unseren Annahmen über die Natur des Menschen erkannt hat. Jede Art von Regierungsform hängt, implizit oder explizit, immer auch damit zusammen, welches Bild wir uns von der Natur des menschlichen Geistes machen. Thukydides war der Auffassung, dass die Masse eine Neigung zu Affekten und Leidenschaft hat, auf Kosten der Vernunft: „Die Masse ist in ihren Auffassungen unstet und wetterwendisch,für ihre Fehlleistungen macht sie andere verantwortlich …“ Die politischen Führer andererseits seien in ihrem Handel vor allem geleitet durch ein „Verlangen nach Macht, um Herrschsucht und Ehrgeiz zu befriedigen.“ Thukydides erkannte, dass jede gute Organisationsform einer Gesellschaft den Schwachstellen der menschlichen Natur Rechnung tragen muss. Die Regierungsform einer Demokratie könne dies nach seiner Auffassung nicht leisten. Als Idealform sah er vielmehr – geleitet durch die Regierung des Perikles – eine Regierungsform an, die „dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit die Herrschaft des Ersten Mannes“ sei.

Aristoteles vertrat eine ähnliche Auffassung. Er sah die Timokratie, die „Herrschaft der Angesehenen und Besitzenden“, als ideale Regierungsform an. Dabei sollten demokratische und oligarchische Elemente so ausgewogen werden, dass weder die Masse oder die Armen noch die Eliten oder die Reichen eine Übermacht gewinnen könnten. Demokratie sah Aristoteles als eine Verfallsform der Timokratie an. Denn die Demokratie beinhalte die Möglichkeit, dass „die Armen, weil sie die Mehrheit bildeten, das Vermögen der Reichen unter sich teilten“, was Aristoteles als Unrecht ansah. Derselbe Grundgedanken findet sich auch an den Ursprüngen der amerikanischen Verfassung: Jede Regierungsform müsse so gestaltet sein, dass sie die Minorität der Reichen gegen die Majorität der Armen schützt („to protect the minority of the opulent against the majority“), sagte James Madison (1751–1836), einer der Gründungsväter der amerikanischen Verfassung. Madisons Lösungsvorschlag für dieses Spannungsverhältnis zwischen Volk und Eliten war die „repräsentative Demokratie“ – de facto also eine Form der Oligarchie -, mit der sich die Sicherung der Eigeninteressen der Minorität der Reichen gewährleisten lasse.

Diese wenigen Beispiele mögen als Illustration dafür genügen, dass die gesamte abendländische Ideengeschichte durchzogen ist von einer tiefen Demokratieskepsis und oftmals Demokratiefeindlichkeit. (1)

Im politischen Diskurs wie auch in der politischen Rhetorik der Neuzeit spielt der Begriff der Demokratie dennoch eine immer größere Rolle. Demokratie ist nun nicht nur eine von möglichen Herrschaftsformen, sondern sie ist die einzige Form, in der sich politische Macht überhaupt legitimieren läßt. Zugleich betrachten die herrschenden Eliten Demokratie als eine „notwendige Illusion“ und bemühen sich hinter der Rhetorik von Demokratie zugleich, die zur Sicherung ihrer Eigeninteressen geeigneten oligarchischen Strukturen zu etablieren. Dabei werden von ihnen ernsthafte demokratische Errungenschaften als „excess of democracy“ deklariert und demokratische Strukturen in einer Weise zu erodieren versucht, die für die Bevölkerung möglichst nicht sichtbar sind – ein Prozeß, der sich in der Gegenwart in beängstigender Weise beschleunigt hat. Für Beispiele mögen als Stichworte die Gesetzgebungsverfahren der EU, Weltbank, IWF, TTIP sowie „Troika“ genügen.

 

 

Das Etablieren oligarchischer Strukturen unter demokratischem Deckmantel ist in beeindruckendem Maße gelungen, denn westliche Demokratien haben tatsächlich eher den Charakter von Oligarchien. Diese Auffassung wird nicht nur von Kritikern dieses Entdemokratisierungsprozesses vertreten, sondern sie wird auch von den herrschenden Eliten selbst geteilt. Beispiel USA: In einem Bericht von 1975 mit dem Titel „The Crisis of Democracy“ – die Krise der Demokratie bezieht hier darauf, dass die Autoren ein „Übermaß an Demokratie“ (“excess of democracy“) diagnostizierten – stellte Samuel Huntington fest, dass zu Zeiten, als Präsident Truman noch in der Lage war, das Land lediglich mit einer Handvoll Wallstreetbankern zu regieren (“to govern the country with the cooperation of a relatively small number of Wall Street lawyers and bankers”), das Management von „Demokratie“ noch relativ einfach war. Seitdem konnte der “excess of democracy“ umfassend korrigiert werden, so dass die Washington Times vom 21. April 2014 feststellen kann: „America is no longer a democracy – never mind the democratic republic envisioned by Founding Fathers.“. Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter nannte in einem Interview am 28. Juli 2015 die USA eine “oligarchy” mit einer “unlimited political bribery”. Der oligarchische Charakter der USA stellt also für die Eliten eine Art offenkundigem Fakt dar. Wer derartige Äußerungen der Elite kein Gewicht beimißt, wird vielleicht das eigentlich Offensichtliche eher anerkennen, wenn es mit wissenschaftlicher Methodik belegt wird. Die Politikwissenschaftler Martin Gilens und Benjamin Page (2014) haben jüngst am Beispiel der USA untersucht, mit welchem Stimmgewicht der Willen der großen Masse des Volkes in politische Entscheidungen eingeht. Ihre Analysen zeigen, dass das Stimmgewicht nahe bei Null liegt und dass siebzig Prozent der Bevölkerung überhaupt keinen Einfluss auf politische Entscheidungen haben. [2]

Das sieht in Europa nicht anders aus. Will man ein halbwegs realistisches Bild von der tatsächlichen Situation bekommen, ist es besonders erhellend, interne Informationsmedien der jeweiligen Eliten heranzuziehen, beispielsweise das Wallstreet Journal. In diesen Medien findet man bisweilen einen relativ ungetrübten Blick auf die Realitäten, weil es für die Finanzelite und für das Geschäftemachen wichtig ist, einen ideologisch nicht allzu verzerrten Blick auf die Realitäten zu haben. Da sich diese Informationsmedien an Mitglieder der Eliten richten, können sie auf die krude politische Rhetorik und Propaganda verzichten, die man in Massenmedien für die Bevölkerung bereit hält. Das Wallstreet Journal vom 28. Februar 2013 stellt nüchtern fest, dass das neoliberale Programm – trotz entsprechender Wahlentscheidungen in zahlreichen Ländern – nicht mehr demokratisch abwählbar ist. [3] Auch in Europa erweist sich also die Auffassung als Illusion, dass die Wähler in einem ernsthaften Sinne den Ausgang der Wahl bestimmten oder durch die Wahl Einfluß auf „systemrelevante“ politische Entscheidungen hätten.

Das ist nun gerade bei Fragen der Wirtschaftspolitik wenig überraschend, denn Neoliberalismus und Demokratie sind in der Tat miteinander unvereinbar. Milton Friedman (1912 – 2006), einer der Gründungsväter des Neoliberalismus, hat dies 1990 offen zum Ausdruck gebracht: „a democratic society once established, destroys a free economy“ (Newsletter of the Mont Pelérin Society) – was es natürlich aus Sicht der Eliten zu verhindern gilt. Demokratie wird also nur soweit als „zulässig“ angesehen, wie der Bereich der Wirtschaft von demokratischen Entscheidungsprozessen verschont ist – also solange sie keine Demokratie ist. In diesem Sinne ist weltweit der Neoliberalismus der größte Feind von Demokratie. Aus Sicht multinationaler Konzerne stellt Demokratie vor allem ein Geschäftsrisiko dar. Wenn die Bevölkerung partout nicht bereit ist einzusehen, dass die Organisation einer Gesellschaft wirtschaftlichen „Sachzwängen“ Rechnung zu tragen hat und dass Löhne und Sozialleistungen äußerst nachteilige Faktoren für die Kapitalvermehrung sind, müssen durch die herrschenden Eliten eben geeignete „Strukturanpassungsmaßnahmen“ auf autoritärem Wege durchgesetzt werden.

Eine wirklich demokratisch organisierte Gesellschaft ist also mit den von den herrschenden Eliten favorisierten Gesellschaftsformen unvereinbar. Wenn schon „Demokratie“ im politischen Geschäft als eine „notwendige Illusion“ erachtet wird, dann sollte die Demokratie eher die Form einer durch geeignete Experten gelenkten „Zuschauerdemokratie“ („spectator democracy“) annehmen als die einer partizipatorischen Demokratie. In einer Zuschauerdemokratie läßt sich die Illusion der Demokratie aufrechterhalten und zugleich eine Stabilität des gegenwärtigen Status politischer Eliten gewährleisten.

 

 

Genau mit diesen Problemen beschäftigte sich auch der zuvor genannte einflußreichen Bericht „The Crisis of Democracy. Dieser Bericht war 1975 im Auftrag der sogenannten „Trilateralen Kommission“ erstellt worden. „Trilateral“ bezieht sich darauf, dass die Mitglieder dieser elitären Beratungskommission aus den drei großen Wirtschaftsblöcken Nordamerika, Europa und Japan stammten. Die Trilaterale Kommission hat enge Beziehungen zu anderen Elitenetzwerken, insbesondere zur Bilderbergkonferenz und zur Atlantik-Brücke. Mitglieder in der deutschen Sektion sind beispielsweise Joseph Ackermann, Gerhard Schröder, Edelgard Buhlmahn oder Theo Sommer

In dem Bericht „The Crisis of Democracy“ wird festgestellt, dass sich die durch ein „Übermaß an Demokratie“ verursachte Krise der Demokratie nur lösen lasse und sich Demokratie nur (im Sinne der Eliten) handhaben lasse, wenn einige Individuen und Gruppen ein gewisses Maß an Apathie und Unbeteiligtheit aufweisen („The effective operation of a democratic political system usually requires some measure of apathy and noninvolvement on the part of some individuals and groups.”) Wobei es sich von selbst versteht, dass es sich bei den Individuen und Gruppen, deren „Unbeteiligtheit“ als wesentlich für eine „effektive Handhabung“ einer Demokratie angesehen wird, nicht um Mitglieder der herrschenden Eliten handelt, sondern eben um das Volk. Die von den herrschenden Eliten gewünschte Zuschauerdemokratie läßt sich also nur erreichen, wenn die Bevölkerung weitgehend entpolitisiert ist und von politischer Lethargie und moralischer Apathie befallen ist.

Dieses Ziel läßt sich nur erreichen, wenn geeignete Techniken verfügbar sind, insbesondere Techniken der Apathie-Induktion (durch Sorgen um den finanziellen Lebensunterhalt, Angsterzeugung, Konsumismus, etc.), Techniken des Meinungsmanagements und Techniken des Empörungsmanagements.

Demokratie und Propaganda

Vergleicht man Vor- und Nachteile verschiedener Regierungsformen , so sei – wie der amerikanische Politikwissenschaftler Harold Lasswell (1902–1978) im Einklang mit einer in der Elite weitverbreiteten Auffassung kundtat – der Demokratie dann der Vorzug zu geben, wenn es zugleich gelänge, die Bürger in Übereinstimmung mit dem politischen System und mit den Entscheidungen, die eine spezialisierte politische Klasse für sie trifft, zu halten. Dies könne nur durch geeignete Techniken der Propaganda gewährleistet werden. Propaganda gehöre also wesenhaft und zwangsläufig zu einer „funktionsfähigen“ Demokratie. Techniken des Meinungsmanagements hätten zudem gegenüber den Kontrolltechniken einer Diktatur den Vorteil, dass sie „kostengünstiger als Gewalt, Bestechung oder irgendwelche anderen Kontrolltechniken“ seien (“cheaper than violence, bribery or other possible control techniques.“). In diesem Sinne könne man also Demokratie, wenn sie durch ein Meinungsmanagement gelenkt sei, als eine optimale Regierungsform angesehen.

In einer besonderen – und heute naheliegenderweise nicht mehr üblichen – Offenheit wurde dies auch durch Edward Bernays (1891–1995) zum Ausdruck gebracht. Edward Bernays war der einflußreichste Propagandist von Propaganda, deren Grundlagen und Techniken er in seinem 1928 erschienenen Buch Propaganda ausarbeitete. Als Propaganda sind alle systematischen Versuche anzusehen, die darauf zielen, die natürliche Urteilsfähigkeit von Menschen zu unterminieren und Einstellungen, Überzeugungen und Meinungen zu erzeugen, durch die sich Menschen zum Vorteil der jeweils herrschenden Eliten missbrauchen lassen (,Entmündigung“, ,Verzweckung“). [4]

In seinem Buch schreibt Bernays: „Die bewußte und intelligente Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie bilden eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist.“ Wir müssen uns dabei klarmachen, dass die von Bernays beschriebene Situation nicht ein Ziel war, sondern bereits der Ist-Zustand der damaligen Zeit – diese Situation hat sich seitdem natürlich noch beträchtlich verschärft. Propaganda ist heute als ein notwendiger Teil des Indoktrinationssystems aller westlichen Gesellschaften anzusehen. Und die „unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist“, besteht aus nahezu unsichtbaren Geweben von Netzwerken verschiedener Eliten. Diese „lenken die gesellschaftlichen Abläufe“. Sie steuern politische Entscheidungen und vermitteln diese durch die „eingebetteten Journalisten“ der Massenmedien der Öffentlichkeit als unvermeidliche Sachzwänge zum Wohle der Bevölkerung. [5]

Wie kann man nun diesen von den Eliten gewünschten Zustand einer „unsichtbaren Regierung“ und einer durch ein geeignetes Maß an Apathie charakterisierten Bevölkerung erreichen? Eine zentrale Rolle spielen dabei natürlich die Massenmedien. Über deren Funktion finden wir sehr klare Einsichten bei Paul Lazarsfeld, einem der bedeutendsten Kommunikationsforscher und zugleich einem der Begründer der modernen empirischen Sozialforschung: „Man muss die Bürger mit einer Flut von Informationen überziehen, so dass sie die Illusion der Informiertheit haben.“ Durch diese Illusion der Informiertheit hat der Bürger ein politisch reines Gewissen; er fühlt sich über alles Wesentliche unterrichtet und kann abends beruhigt zu Bett gehen. [6]

In dieser Hinsicht zählen für Lazarsfeld die Massenmedien zu den “most respectable and efficient of social narcotics”. Wenn man durch sie den Bürgern das Gefühl der Informiertheit gibt und wenn sie dann beim Frühstück die Süddeutsche Zeitung gelesen haben, nachmittags noch einmal in Spiegel Online geschaut haben und sich abends die Tagesschau angesehen haben, sind sie von ihrem Gefühl der Informiertheit so überwältigt, dass sie die Krankheit, an der sie leiden – so Lazarsfeld – nicht einmal mehr erkennen können („to keep the addict from recognizing his own malady“).

Besonders die sog. gebildeten Schichten sind anfällig für die Illusion des Informiertseins. Diese Schichten sind aus naheliegenden Gründen in besonderem Grade durch die jeweils herrschende Ideologie indoktriniert – das war im Nationalsozialismus nicht anders als heute; sie sind durch ihre schweigende Duldung ein wichtiges Stabilisierungselement der jeweils herrschenden Ideologien.

Beispiele, wie eine solche Narkotisierung auf affektivem Wege zu erreichen ist, finden sich genügend. [7]

Neben Techniken der Sedierung spielen im politischen Bereich der affektiven Kontrolle Techniken der Angsterzeugung eine besondere Rolle. In der Legitimationsrhetorik für militärische „Interventionen“ bedient man sich gerne einer Doppelstrategie: Die gebildeteren Teile der Bevölkerung lassen sich recht leicht unter dem Banner von „humanitären Interventionen“ für Angriffskriege gewinnen, der übrige Teil lässt sich am leichtesten durch Angsterzeugung vor bösartigen und gewalttätigen Kräften gewinnen. Ein historisch berühmtes Beispiel mit gewaltigen Konsequenzen zeigt den damaligen US-Außenminister Colin Powell am 5. Februar 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat, in der Hand ein pulvergefülltes Röhrchen. Es sollte den „eindeutigen Beleg“ dafür demonstrieren, dass Sadam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfüge. Dieser „Nachweis“ richtete sich vor allem an die amerikanische Bevölkerung und hatte das Ziel, deren Ängste so zu erhöhen, dass sie die schon lange geplante US-Invasion des Irak befürwortet. Diese Affektmanipulation war höchst wirkungsvoll, mit dem Kollateraleffekt, dass in der Folge mehr als 100.000 irakische Zivilisten ermordet wurden. Das folgenschwerste jüngste Beispiel, wie sich mit Angsterzeugung hegemoniale Politik machen läßt, ist die Berichterstattung der Massenmedien über Russland und die Ukraine. [8]

 

 

Insgesamt sind zur Lenkung der Bevölkerung Techniken vorzuziehen, die nicht nur kurzzeitig wirken, sondern länger anhaltende Effekte haben. In diesem Sinne ist eine Steuerung von Meinungen wichtiger als eine rein affektive Steuerung. Denn Meinungen sind zumeist stabiler als Affekte. Daher kommt Techniken eine besondere Rolle zu, durch die man Meinungen in geeigneter Weise steuern kann. Ich will hier nur auf ein paar recht einfache Aspekte eingehen. Für diese einfachen Techniken benötigt man keine besonderen Kenntnisse der Psychologie, sie sind das Standardgeschäft der Massenmedien:

1. Deklariere Fakten als Meinungen. In der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen, liegt, wie Hannah Arendt bemerkte, einer der erschreckendsten Aspekte totalitärer Denksysteme.

2. Fragmentiere die Darstellung eigentlich zusammenhängender Fakten so, dass der Sinnzusammenhang verloren geht.

3. De-kontextualisiere Fakten, löse
sie aus ihrem eigentlichen Zusammenhang, so daß sie als isolierte Einzelfälle erscheinen.

4. Re-kontextualisiere Fakten, bette sie so in einen neuen, mit „positiven“ Begleitvorstellungen versehenen Kontext ein, dass sie ihren ursprünglichen Sinnzusammenhang und ein damit möglicherweise verbundenes moralisches Empörungspotential verlieren.

Über diese recht einfachen Techniken hinaus, hat die Psychologie eine Fülle von sehr viel subtileren und teilweise überraschenden Mechanismen unserer Entscheidungs- und Meinungsbildung identifiziert, die sich für eine sehr effektive Meinungssteuerung nutzen lassen. Dies gilt um so mehr, als zentrale Prozesse unserer Entscheidungs- und Meinungsbildung unbewußt ablaufen und keiner willentlichen Kontrolle zugänglich sind. Ich will hier nur zwei einfache Beispiele anführen:

i) Eine Reihe experimenteller Studien zeigt, dass eine Aussage, die die Experimentatoren gemacht haben, im eingeschätzten Wahrheitsgehalt der Beobachter steigt, je häufiger sie präsentiert wird, und zwar auch dann, wenn sie zuvor vom Experimentator ausdrücklich als falsch deklariert wurde. Diese Prozesse laufen automatisch und unbewußt ab. Wir können uns also nicht dagegen wehren. Selbst wenn man die Versuchsperson zuvor über dieses Phänomen aufklärt, ändert dies nichts an dem Effekt: Je häufiger sie eine Meinung hört, um so stärker steigt der gefühlte Wahrheitsgehalt. Beispiele aus der Tagespresse gibt es auch hier in Hülle und Fülle, seien es „die reformunwilligen Griechen“ oder, im Zusammenhang mit der Krim, die Bezeichnung „Annexion“. Allein durch dauernde Wiederholung steigt tendenziell der gefühlte Wahrheitswert. [9]

ii) Je weniger wir uns in einem Bereich auskennen, um so stärker neigen wir dazu, die Wahrheit gleichsam in der Mitte zu suchen. Wir neigen also dazu, alle Meinungen als gleichberechtigt anzusehen, und meiden die als „extrem“ angesehenen Ränder des beobachteten Meinungsspektrums, selbst dann, wenn tatsächlich die „richtige“ Auffassung dort verortet ist.

Die öffentliche Meinungsbildung läßt sich also sehr wirkungsvoll bereits dadurch steuern, daß man zunächst die „Ränder“ dessen festlegt, was noch als „vernünftig“ anzusehen ist. Wer also die Ränder des in der Öffentlichkeit sichtbaren Meinungsspektrum markieren kann und damit die Ränder des „vernünftigerweise Akzeptablen“, der hat schon einen großen Teil des Meinungsmanagements erreicht. In einer neoliberalen, also „markkonformen“ Konzeption von „Demokratie“ ist es naheliegenderweise besonders wichtig, den linken Rand des „Zulässigen“ – also dessen, was man noch „verantwortlich“ vertreten kann – zu markieren. Beispielsweise können die herrschenden Eliten die Auffassungen von Jürgen Habermas als das Äußerste deklarieren, was wir „in unserer liberalen Demokratie“ vernünftigerweise zu akzeptieren bereit sind. Positionen, die radikaler sind und deutlicher auf das Zentrum der Macht zielen, werden dann bereits durch diese nahezu unsichtbare Markierung der Grenzen des „Akzeptablen“ für die Öffentlichkeit als „Unverantwortlich“ gekennzeichnet. Sie gehören damit nicht mehr zum Bereich dessen, was „sinnvoll“ diskutiert werden kann.

Wie lassen sich politisch nachteilige Fakten kognitiv und moralisch unsichtbar machen?

Wenn wir unseren Blick etwas geschärft haben für diese Techniken des Meinungsmanagements, können wir uns mit einem interessanten Paradox beschäftigen, das durch die Geschichte leider im Übermaß belegt wird: eine Art Selbsteinschätzung-Verhaltens-Paradox. Auch auf der Ebene von Staaten und Nationen fallen Selbsteinschätzung und Verhalten auseinander. Staaten können mit Billigung und Unterstützung der Mehrzahl ihrer Bürger schlimmste Greueltaten – wie Folter, Massenmorde und Völkermord – begehen und dennoch davon überzeugt sein, dass ihre Taten moralisch nicht verwerflich seien. Dieses Phänomen wirft tiefgehende Fragen zu unserer Natur auf. Denn eigentlich verfügen wir ja über eine natürliche moralische Sensitivität, über ein natürliches Urteilsvermögen für das, was wir als Unrecht ansehen – zumindest dann, wenn es die Taten anderer betrifft. Damit es zu dem genannten Paradox kommen kann, muß unser natürliches moralisches Urteilsvermögen in geeigneter Weise unterlaufen oder blockiert werden. Am einfachsten ist dies zu bewerkstelligen, wenn man die von „unserer“ Gemeinschaft begangenen Greueltaten „moralisch unsichtbar“ macht.

Zunächst mag es schwierig erscheinen, offenkundige Fakten unsichtbar zu machen, doch die Zauberkunst illustriert uns, dass es gar nicht so schwer ist, dies durch ein geeignetes Aufmerksamkeitsmanagements zu bewerkstelligen.

Ein Gemälde „Der Gaukler“ von Hieronymus Bosch (1450–1516) illustriert kunstvoll und gedankenreich, worum es geht.

 

 

Um einen Tisch sind verschiedene Personen versammelt, offensichtlich alles Vertreter der besser situierten Gesellschaft, die der Verführung erlegen sind, die ein Gaukler, natürlich zu seinem Vorteil, mit recht banalen Hilfsmitteln auszulösen vermag. Einige verkörpern Gaffer und Voyeure, andere eher unbeteiligt wirkende zufällige Zuschauer. Auffallend ist eine in der Laientracht eines Ordens gekleidete Person, die offensichtlich, wie der Zwicker auf der Nase anzeigt, des Lesens mächtig ist, also ein Intellektueller. Er erfaßt die Situation und nutzt sie rasch zu seinen Gunsten: Er stiehlt den Geldbeutel der durch den Gaukler hypnotisierten Person vor ihm – er ist also das, was man im Mittelalter einen Beutelschneider nannte. Ich werde auf dieses Bild später in einem unerwarteten Zusammenhang zurückkommen.

Es gehört – wie das Bild von Bosch illustriert – nicht viel dazu, die Aufmerksamkeit von Menschen so zu manipulieren, dass sie das Offenkundige nicht mehr bemerken können und eigentlich augenfällige Fakten für sie unsichtbar sind. Dass dies auch im politischen Bereich mit bemerkenswerter und beunruhigender Wirksamkeit möglich ist, will ich anhand einiger Fakten aufzeigen, die unmittelbar mit dem genannten Selbsteinschätzungs-Verhaltens-Paradox zusammenhängen, also mit schweren Verletzungen moralischer Normen durch politische Gemeinschaften, denen wir angehören. Dabei möchte ich aber die übliche politische Perspektive gleichsam umkehren: Statt danach zu fragen, aus welchen vorgeblichen oder tatsächlichen Motiven Regierungen diese Verbrechen begangen haben, möchte ich den Blick auf die Bevölkerung, also auf uns selbst richten und nach den Gründen fragen, warum wir auf diese Verbrechen nicht mit einer angemessenen moralischen Empörung reagieren.

Da also die Fakten hier nur als Grundlage zur Behandlung dieser Fragen dienen, kann ich mich auf ein kurzes Konstatieren weniger Beispiele beschränken. Diese Beispiele sind so gewählt, daß sie die folgenden drei Kriterien erfüllen.

i) Sie beziehen sich auf Taten, für die „wir“ verantwortlich sind, also die politische Gemeinschaft, der wir angehören.

ii) Sie beziehen sich auf eindeutige Verletzungen moralischer Normen und Verbrechen, also auf Taten, auf die wir ohne Zögern, wenn unsere „Gegner“ sie begehen würden, mit Empörung und moralischer Verurteilung reagieren würden. iii) Sie sind unstreitig und gut dokumentiert, und auch die Massenmedien berichteten über sie (wenn auch fragmentiert und zumeist „geeignet“ re-kontextualisiert).

Unsichtbarmachen „kleiner Fakten“

Am einfachsten ist das moralische Unsichtbarmachen von Fakten in solchen Fällen, die wegen ihres Umfanges, wegen ihres geringen politischen Gewichts oder weil sie recht abstrakte Sachverhalte betreffen nur eine geringe „moralische Sichtbarkeit“ haben. Über derartige „kleine“ Fakten können die Massenmedien risikolos berichten; solche Fakten können im Wortsinne sichtbar und dennoch „moralisch unsichtbar“ sein.

Recht mühelos gelingt das moralische Unsichtbarmachen im Falle schwerer Verletzungen moralischer Normen, die durch abstrakte Strukturen verursacht sind. Anders als konkret sichtbare Gewalt unterläuft strukturelle Gewalt gleichsam unsere natürlichen moralischen Sensitivitäten. Hierzu gehören beispielsweise Wirkungen, die aus demokratisch nicht mehr kontrollierbaren Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals resultieren. Für die Wahrnehmung von Ursachen, die abstrakter Natur sind, ist der menschliche Geist nicht gut ausgestattet; wir erkennen sie zumeist selbst dann nicht, wenn sie gewaltige Folgen haben. Jean Ziegler, der ehem. UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, bemerkte 2012 in der Zeitung Junge Welt: „Der deutsche Faschismus brauchte sechs Kriegsjahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen – die neoliberale Wirtschaftsordnung schafft das locker in gut einem Jahr.“ Selbst dann, wenn sich die Ursache benennen läßt, fällt es uns bei abstrakten Strukturen schwer, auf Verbrechen mit moralischer Empörung zu reagieren. Beispiel: Die Weltbank, deren Aufgabe darin besteht, Finanzierungsinstrumente für langfristige Entwicklungs- und Aufbauprojekte im Bereich der Realwirtschaft bereitzustellen. Menschenrechtsorganisationen verurteilen seit Jahren die Menschenrechtsverletzungen durch die Weltbank. Gelegentlich findet dieses Thema auch den Weg in die Massenmedien. So schrieb die Süddeutsche Zeitung am 16. April 2015: „Bei von der Weltbank finanzierten Infrastrukturprojekten in Afrika werden Armutsviertel zum Teil ohne Vorwarnung niedergewalzt. Bewohner werden zwangsweise umgesiedelt oder obdachlos.“ Entsprechend die ZEIT vom gleichen Tag, unter dem Titel „Weltbank verletzt Menschenrechte weltweit“: Allein im vergangenen Jahrzehnt hätten „3,4 Millionen Menschen in mehr als 900 Weltbank-Projekten ihr Land oder einen Teil ihrer Lebensgrundlage verloren.“ Über diese folgenschweren Fakten kann man die Bevölkerung risikofrei unterrichten; solange der für ihr Verständnis notwendige Kontext weitgehend unsichtbar bleibt, werden derartige Verbrechen die Bevölkerung nicht sonderlich interessieren oder beunruhigen.

 

 

Anders verhält es sich bei konkreten Dingen, wie beispielsweise Folter. Bei Folter gibt es einen Täter. Wenn die Ursache eines Verbrechens nicht abstrakt ist, sondern konkrete Täter auszumachen sind, wird unser natürliches moralisches Empörungsvermögen, unsere moralische Sensitivität eher angesprochen. Doch mit Fragmentierung und einer geeigneten De-Kontextualisierung gelingt auch hier ein moralisches Unsichtbarmachen mühelos.

Beispiel Usbekistan: Usbekistan gilt als eine der schlimmsten Diktaturen der Welt, und das dortige Regime begeht systematisch schwerste Menschenrechtsverletzungen, wie Massenmorde, Folter oder Kinderarbeit. Da Deutschland dort jedoch einen Luftwaffenstützpunkt betreibt und somit strategische Interessen verfolgt, gehört die Duldung von Folter in Usbekistan zur deutschen Staatsraison. [10]

Weitere Beispiele für Fakten, die sich mühelos moralisch unsichtbar machen lassen, lassen sich leicht finden.

Unsichtbarmachen „großer Fakten“

Wie sieht nun die Möglichkeit des Unsichtbarmachens in Fällen aus, die sich eigentlich schon ihrer Größenordnung wegen nicht zum Verschwinden bringen lassen. Das erfordert einen beträchtlichen Aufwand, im politischen Bereich ebenso wie in der Zauberkunst. Doch bekanntlich hat David Copperfield 1983 vorgeführt, dass er sogar die Freiheitsstatue vor den Augen seiner Zuschauer verschwinden lassen kann. In der Zauberkunst erfordert dies einen aufwendigen und raffinierten technischen Apparat. Beim Meinungsmanagement ist der Apparat, durch den sich Fakten unsichtbar machen lassen, in gewissem Sinne zwar auch aufwendig – nämlich die Verfügbarkeit von Massenmedien -, doch die benötigten psychologischen Techniken sind nicht sonderlich raffiniert.

Nur ein Beispiel für derartige Fakten will ich anführen, nämlich die Anzahl der von Zivilisten, die in den von den USA seit dem 2. Weltkrieg durchgeführten „Interventionen“ getötet wurden. Da die USA als „engster Verbündeter Deutschlands“ gelten und da nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes diese „transatlantischen Beziehungen auf gemeinsamen Werten beruhen“ fallen die entsprechenden Fakten in einen politischen Bereich, für den „wir“ mitverantwortlich sind.

Zählt man nun die zivilen Opfer von US-Interventionen zusammen, so kommt man allein im Vietnam/Korea-Krieg auf 10 bis 15 Millionen sowie auf weitere 9 bis 14 Millionen durch kriegerische Akte der USA und ihrer Erfüllungsgehilfen (z.B. in Afghanistan, Angola, Kongo, Ost-Timor, Guatemala, Indonesien, Pakistan, Sudan). Insgesamt sind nach offiziellen Angaben oder Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen die USA seit dem 2. Weltkrieg durch Angriffe auf andere Länder für den Tod von 20 bis 30 Millionen Menschen verantwortlich.

 


Opfer des Massakers von My Lai (Foto: US-Army, public domain)

 

Begleitet wurden und werden diese Verbrechen durch einen Chor der Selbstbeglückwünschung und Selbstbeweihräucherungen westlicher Politiker, bereitwilliger Journalisten und Intellektueller, für die diese Taten nur Ausdruck sind für das wohltätige Bemühen der „world“s greatest force for peace and freedom, for democracy and security and prosperity“, so der damalige US-Präsident Clinton (am 28. April 1996).

Allein in den letzten 15 Jahren wurden vier Millionen Muslime durch „uns“, also durch die „westliche Wertegemeinschaft“, getötet, um so den Terrorismus in der Welt auszurotten. Dies steht in einer langen geschichtlichen Kontinuität der „westlichen Wertegemeinschaft“ – vom europäischen Kolonialismus und seiner „zivilisatorischen Mission“, über den Vietnamkrieg, in dem 1-2 Millionen Zivilisten durch ihre Ermordung vom Kommunismus, also von den Zumutungen einer falschen Lebensform, befreit wurden, bis hin zu „humanitären Interventionen“ und „zivilisatorischen Missionen für Demokratie und Menschenrechte“ der Gegenwart.

Es bedarf in der medialen Darstellung dieser Verbrechen einer beträchtlichen Fragmentierung und einer radikalen Re-Kontextualisierung als „Kampf für Demokratie und Menschenrechte“, damit Verbrechen dieser Größenordnung sowie ihre geschichtliche Kontinuität für die Öffentlichkeit nahezu unsichtbar werden.

 


B-52-Bomber (Foto: US Airforce, gemeinfrei)

 

Obwohl all dies ausführlich dokumentiert ist, ist es im öffentlichen Bewußtsein so gut wie nicht präsent.

„Wie viele Menschen muss man töten, bis man sich die Bezeichnung verdient hat, ein Massenmörder und Kriegsverbrecher zu sein?“, fragte Harold Pinter 2005 in seiner Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises. Er erinnerte an das „weitverzweigtes Lügengespinst, von dem wir uns nähren“ („a vast tapestry of lies, upon which we feed“). Damit die Macht der herrschenden Eliten „erhalten bleibt, ist es unabdingbar, dass die Menschen unwissend bleiben, dass sie in Unkenntnis der Wahrheit leben, sogar der Wahrheit ihres eigenen Lebens.“ Zu diesem Lügengespinst gehört es, dass die genannten Verbrechen im Bewußtsein der Bevölkerung unsichtbar sind; sie sind schlicht nicht passiert.

„Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand.“
Harold Pinter

Womit sich die beängstigende Frage stellt, wie sich eine moralische Apathie solchen Ausmaßes erreichen läßt. „ What has happened to our moral sensibility? Did we ever have any? What do these words mean?“

Die Antwort führt uns wieder zur Zauberkunst, denn eine solche moralische Apathie zu erzeugen ist ein „glänzender, sogar geistreicher, äußerst erfolgreicher Hypnoseakt“.

Das wichtigste Medium für eine solche kollektive Hypnose ist natürlich die Sprache. Wer die Sprache beherrscht, also die Begrifflichkeiten und Kategorien, in denen wir über gesellschaftlich-politische Phänomene nachdenken und sprechen, hat wenig Mühe, auch uns zu beherrschen. „Mit Hilfe der Sprache hält man das Denken in Schach.“ [11]

Auch „große“ Fakten lassen sich also durch einfache psychologische Techniken, wie sie in der Graphik noch einmal zusammengefaßt sind, moralisch unsichtbar machen. Diese Techniken sind kaum noch als bewußt eingesetzte Techniken erkennbar, sondern sind tief in der „normalen“ Funktionsweise der Massenmedien verankert und stellen geradezu deren Charakteristikum dar. Diese Manipulationstechniken müssen also nicht erst durch eine Art zentraler Lenkung implementiert werden, sondern sind im wesentlich lediglich Ausdruck der Volksweisheit „Wes Brot ich eß, des Lied ich sing“. Kennt man das für die „Unterrichtung“ der Bevölkerung gewünschte Lied, so ergeben sich diese Techniken nahezu von selbst.

Notwendigkeit eines „Empörungsmanagments“

Nun kann es aus Sicht der herrschenden Eliten Situationen geben, die für die Stabilität eines Systems besonders gefährlich sind, weil sie das Potential einer Kettenreaktion bergen. Typischerweise werden derartige Situationen durch Vorkommnisse ausgelöst, die das moralische Empfinden der Bevölkerung so heftig ansprechen, dass diese mit Empörung reagiert. Derartige Situationen gilt es rasch und wirksam zu entschärfen. Die auf eine längerfristige Steuerung von Meinungen zielenden Techniken reichen hierfür oftmals nicht aus, so dass besondere Techniken erforderlich sind, die ausgelöste Empörung zu kontrollieren und zu steuern. Ein typisches Beispiel für eine Situation, in der „durch ein unglückliches Mißgeschick“ das moralische Empfinden der Bevölkerung so heftig angesprochen wurde, dass diese mit Empörung reagierte, war die Veröffentlichung von Folterbildern aus dem von den USA betriebenen irakischen Gefängnis in Abu Ghraib. [12] „Stabilitätsgefährdende“ Empörungsreaktionen der eigenen Bevölkerung – wie im Falle von Folter oder Massenüberwachung –, sind aus Sicht der Eliten rasch einzudämmen oder auf geeignete Scheinziele umzulenken.

 

 

Doch auch Empörungsreaktionen der Bevölkerung eines „befreundeten“ Landes können für die „Stabilität“ – womit in der Regel die eigenen hegemonialen Interessen gemeint sind – gefährlich sein und müssen folglich in geeigneter Weise kontrolliert werden. Dies gilt besonders dann, wenn sie sich in kollektiv organisierter Weise manifestieren. In diesem Fall spricht man bei den nötigen Kontrolltechniken von „Aufstandsbekämpfung“. Handelt es sich hingegen um Empörungsreaktionen der Bevölkerung von nicht pro-westlich eingestellten Staaten, in denen „wir“ einen Systemwechsel anstreben, so sind Aufstände natürlich nicht zu bekämpfen, sondern durch Techniken eines Empörungsmanagements anzufachen und auf geeignete Zielobjekte zu richten. In diesen Fällen sprechen wir von „Farbrevolutionen“, die es dann in geeigneter Weise zur „Förderung von Demokratie und Menschenrechten“ zu lenken gilt.

Aufstandsbekämpfung

Methoden der Aufstandsbekämpfung („counterinsurgency“), als militärische Einsätze unterhalb der Kriegsschwelle („low intensity warfare“), bilden heute den bedeutendsten und umfassendsten Bereich von Interventionsmethoden und übertreffen die klassische Kriegführung weit an Bedeutung.

Sie umfassen all die Methoden, die auch nach offizieller Definition von Terrorismus als Terrorismus anzusehen sind: nämlich unrechtmäßige Gewaltakte, um durch Angsterzeugung politische oder ideologische Ziele zu erreichen. [13] Im Falle der „Aufstandsbekämpfung“ nennt sich diese Form des Terrorismus jedoch Anti-Terrorismus („counterterrorismus“). Anti-Terrorismus und Terrorismus unterscheiden sich also nur dadurch, ob entsprechende Gewaltakte von „uns“ oder durch unsere Feinde begangen werden. Der Begriff „Terrorismus“ ist also ein zutiefst ideologisch getränkter Begriff. Dies gilt gleichermaßen für den Begriff „Aufstandsbekämpfung“. Auch hier ist es wichtig, seine stillschweigenden Prämissen aufzudecken: Das Wort „Aufständische“ impliziert stets die Perspektive der jeweiligen herrschenden Ordnung. „Aufständische“ werden diejenigen genannt, die die Stabilität einer von „uns“ gewünschten Ordnung bedrohen, als „Freiheitskämpfer“ hingegen werden diejenigen bezeichnet, die die Stabilität einer von „uns“ nicht gewünschten Ordnung bedrohen.

Die Methoden der Aufstandsbekämpfung umfassen ein breites Spektrum von Methoden, zu deren Verfeinerung auch der universitäre Bereich beizutragen sucht. Sie reichen von „information operations“, d.h. Methoden zur Kontrolle der öffentliche Meinung, über ,population-control measures“ bis hin zu ,shock and awe“-Taktiken.

Die blutigen Formen der Aufstandsbekämpfung werden von speziellen Einheiten übernommen, etwa CIA oder den zahlreichen Einheiten des Joint Special Operation Command. In der New York Times erschien am 7. Juni 2015 unter der Überschrift ,A Secret History of Quiet Killings and Blurred Lines“ ein ausführlicher Bericht über diese Einheiten der „Aufstandsbekämpfung“, die als „global manhunting machine“ bezeichnet werden. Bereits das wenige, was über sie ans Licht gekommen ist, zeigt eine lange Bilanz von ,killing fests“, von „Schlachtfesten“ an Zivilisten. Diese Einheiten verfügen, laut Jeremy Scahill, über einen Jahres­etat von 8 Milliarden Dollar.

 

 

Der Bericht der NYT hat zwar einige kurzzeitige Empörungsreaktionen hervorgerufen, doch zugleich die Bürger in der Überzeugung bestärkt, dass in „unserer Demokratie“ letztlich alles ans Licht komme und somit kein Grund zu einer ernsthaften Beunruhigung bestehe. Zudem bettet der Bericht die Darstellung dieser Verbrechen wieder in den üblichen Kontex „bedauerlicher Einzelfälle“ ein und verdeckt durch eine geschichtliche Fragmentierung die lange Tradition derartiger Einheiten.

Die blutigen Methoden der Aufstandsbekämpfung wurden vor allem im Vietnam-Krieg erprobt, etwa durch die Tiger Force. Dennoch ist die Kontinuität dieser Methoden für das öffentliche Bewußtsein praktisch unsichtbar. [14]

Aufstandsentfachung

Eine gänzlich andere Strategie wird hingegen verfolgt, wenn sich Aufstände gegen eine der „westlichen Wertegemeinschaft“ mißliebige Regierung richten. Dann sprechen wir bei Aufständen, die versprechen, einen geeigneten Systemwechsel herbeizuführen, davon, dass diese den Freiheitswillen der Bevölkerung widerspiegeln und daher im Sinne einer „democracy promotion“ nach Kräften zu fördern sind.

Ein Systemwechsel auf einem Wege zu erreichen, der keiner militärischen Gewalt bedarf und zudem aus der Mitte des Volkes zu kommen scheint – man spricht oft von „Farbrevolutionen“ – hat für die USA gegenüber den in den vorhergehenden Jahrzehnten dutzendfach von der CIA durchgeführten Militärputschen und Staatsstreichen eine Reihe von Vorteilen. Verdeckt inszenierte Systemwechsel sind nicht nur kostengünstiger, sondern haben auch in der westlichen Öffentlichkeit und im internationalen Staatenverbund eine vielfach höhere Akzeptanz als Putsche. Ein Regime, das vordergründig auf gewaltfreiem Wege und als vorgeblicher Ausdruck des Volkswillens an die Macht gekommen ist, gilt damit bereits als demokratisch legitimiert.

Für die Unterstützung verdeckt inszenierter Systemwechsel gibt es finanzstarke Netzwerke privater „gemeinnütziger“ Organisationen, die sich der Förderung von „Demokratie und Menschenrechten“ in Ländern widmen, die sich dem westlichen Werteverständnis gegenüber nicht hinreichend aufgeschlossen zeigen. Eine der einflußreichsten dieser Organisationen ist das National Endowment for Democracy (NED) sowie die durch das NED geförderten privaten NGOs wie Freedom House und das Open Society Institute von George Soros. Dankenswerterweise machte NEDs Expräsident Allen Weinstein im Jahr 1991 die Kontinuität in den Aktivitäten dieser Organisationen und den durch die CIA organisierten Putschen deutlich: “A lot of what we do today was done covertly 25 years ago by the CIA.” Und in der Tat kann das NED auf eine lange Liste gewaltfrei etablierter autoritärer, doch US-freundlich gesinnter Regime, vor allem in Mittel- und Südamerika, verweisen. Gegenwärtig liegt sein Schwerpunkt auf einer entsprechenden „democracy promotion“ in Osteuropa.

 

 

Zudem werden all diese Aktivitäten zur Förderung hegemonialer Interessen durch global agierende und hochgradig spezialisierte Propagandafirmen begleitet, die sich selbst PR-Agenturen nennen. Alle US-Intervention der vergangenen Jahrzehnte sind durch derartige Firmen propagandistisch vorbereitet und begleitet worden. Diese Firmen sind trotz ihres großen Einflusses auf die Massenmedien, für die Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar – beispielsweise Hill & Knowlton Strategies – die eine gewisse Berühmtheit durch die „Brutkastenlüge“ von 1990 erlangten –, Burson-Marsteller oder Rendon Group. Sie haben global mit beträchtlichem Erfolg gezeigt, dass sie der Öffentlichkeit nicht nur „Kriege verkaufen“ können, sondern auch die politisch gewünschte „Realität“.

Dieser politische Kontext einer Kontinuität über viele Jahrzehnte ist für die Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar, da die Massenmedien diese Kontinuität so in Einzelfälle fragmentieren, dass jeder einzelne Fall so erscheint, als ginge es bei einer militärischen Intervention vor allem und die Förderung von Demokratie und Menschenrechten und als sei es bei Aufständen in Osteuropa oder in überwiegend islamischen Ländern einzig und allein das Volk, das sich hier Ausdruck verschafft, um genau den von „uns“ erstrebten Systemwechsel zu erreichen.

 

 

Die Kunst der Täuschung

Nicht nur die öffentliche Meinung, auch das Empörungspotential der Öffentlichkeit ist ein viel zu kostbares Gut, als das man es der Bevölkerung oder dem Zufall überlassen könnte. Da wir aber von Natur aus über moralische Sensitivitäten verfügen, hat die Kontrolle unseres moralischen Empörungspotentials zur Voraussetzung, dass man in der Bevölkerung ein hinreichendes Maß an politischer Apathie erzeugt. Zudem müssen Techniken verfügbar sein, mit denen sich alle Fakten moralisch unsichtbar machen lassen, die diese Apathie gefährden könnten. Hierzu gehören insbesondere schwerwiegende und systematische Menschenrechtsverletzungen, weil diese geeignet sind, unsere natürlichen moralischen Sensitivitäten anzusprechen.

Realpolitik bedeutet gerade, Verweise auf Demokratie, Menschenrechte oder moralische Normen allgemein nur als rhetorische Hülsen anzusehen, mit denen sich die Bevölkerung wirksam steuern läßt; dazu bedarf es geeigneter Techniken, durch die man die Bevölkerung über die Diskrepanz von politischer Rhetorik und der Realität täuschen kann und so die Stabilität der jeweiligen politischen Ordnung gewährleisten kann. Eine solche Täuschung wiederum gelingt um so wirkungsvoller, je besser man dabei den Gesetzmäßigkeiten unseres Geistes Rechnung trägt.

Die Psychologie hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Fülle neuer und vertiefter Einsichten in Gesetzmäßigkeiten der Funktionsweise unseres Geistes gewonnen. Viele dieser Einsichten lassen sich für eine Verfeinerung von Techniken der Propaganda und Täuschung nutzbar machen.

Dabei ist es, angesichts historischer Erfahrungen, wenig überraschend, dass sich genügend Psychologen finden, die sich bereitwillig in den Dienst eines solchen Unterfangens stellen, was ihnen natürlich die Wertschätzung „relevanter“ Kreise einträgt. Nur ein Beispiel: Die American Psychological Association (APA), die größte Standesorganisation von Psychologen der Welt, organisierte 2003 zusammen mit der CIA einen Science of Deception-Workshop. Ziel dieses Workshops war es, neueste psychologische Befunde zu diskutieren und für die Praxis aufzubereiten, auf deren Basis man „zum Zwecke der nationalen Sicherheit“ die Bevölkerung am besten täuschen könne. [15]

Auch andere Geheimdienste sind an solchen Befunden der Psychologie interessiert, die Möglichkeiten eröffnen, verfeinerte Techniken der Täuschung und Meinungsmanipulation zu entwickeln. Durch die Snowden-Dokumente wurde ein Manual des britischen Nachrichtendienstes Government Communications Headquarters (GCHQ) bekannt (The Intercept, 25.2.2014), das sich genau den Möglichkeiten widmet, wie sich auf der Basis dessen, was wir gegenwärtig über Prinzipien unseres Geistes wissen, die Bevölkerung täuschen läßt und Fakten unsichtbar machen lassen. Es trägt den Titel ,The Art of Deception“ und zeigt als Titelbild passenderweise genau das eingangs abgebildete Gaukler-Bild von Hie­ronymus Bosch.

 


„Training for a new generation of online covert operations“

 

In diesem Manual sind akribisch die Funktionsbereiche unseres Geistes sowie spezifische Eigenschaften dieser Funktionsbereiche aufgeführt, die sich für Zwecke der Täuschung nutzen lassen.

Können wir uns gegen eine systematische Manipulation unserer Einstellungen, Überzeugungen und Meinungen schützen?

Bei der Entwicklung verfeinerter Manipulationstechniken wird gezielt nach solchen Designaspekten und funktionalen Gesetzmäßigkeiten unseres Geistes gesucht, die sich gleichsam als „psychische Schwachstellen“ für Manipulationszwecke nutzen lassen. Der wichtigste Aspekt dabei ist, dass uns die für solche Zwecke genutzten Funktionen unseres Geistes – aus prinzipiellen Gründen unseres mentalen Designs – nicht bewußt zugänglich sind. Nutzt man sie für Manipulationszwecke, so erliegen wir nahezu automatisch, unwillentlich und unbewußt solchen Manipulationen, ohne auch nur zu bemerken, dass wir ihnen erliegen. Selbst wenn wir wissen, wie diese Manipulationstechniken funktionieren und welche Eigenschaften unseres Geistes sie sich zunutze machen, sind wir nicht gegen sie gefeit. Die dabei aktivierten internen Prozesse laufen unbewußt ab und unterliegen nicht unserer willentlichen Kontrolle. Wenn sie erst einmal aktiviert sind, ist es aussichtlos, ihnen entgehen zu wollen.

In dieser Hinsicht verhalten sie sich im Prinzip nicht anders als die Prozesse, die beispielsweise der Wahrnehmung zugrunde liegen. Auch bei der Wahrnehmung können wir in der Regel sog. Wahrnehmungstäuschungen nicht willentlich korrigieren. Ein Beispiel ist die Bewegungstäuschung, der man erliegt, wenn man im Bahnhof aus dem Fenster eines stehenden Zuges auf den gerade abfahrenden Zug des Nachbargleises blickt und dabei den Eindruck hat, dass sich der eigene Zug in Bewegung setzt. Derartige Effekte laufen unbewußt und automatisch ab und verschwinden auch dann nicht, wenn man sie gut kennt. Wenn wir ihnen also entgehen wollen, müssen wir diejenigen Situationen meiden, durch die sie ausgelöst werden.

Gleiches gilt auch für spezifische Eigenschaften mentaler Prozesse, die man für Manipulationszwecke auszunutzen sucht. Auch sie laufen, wenn sie erst einmal durch bestimmte Situationen ausgelöst worden sind, weitestgehend unbewußt und nicht kognitiv kontrollierbar ab. Wir können also den psychologischen Effekten, die sich Manipulationstechniken gezielt zunutze machen, nur dadurch entgehen, dass wir die auslösende Situation so gut es geht vermeiden. Nur wenn wir erkennen, dass wir uns in einem Manipulationskontext befinden, und dann die Medien, über die die gewünschten Manipulationen vermittelt werden, aktiv vermeiden, haben wir in derartigen Situationen eine Chance, uns einen Rest von Autonomie zu bewahren.

Wenn wir uns jedoch dem Manipulationskontext freiwillig aussetzen und zudem der Überzeugung sind, dass wir im Großen und Ganzen schon in der Lage seien, in den „Nachrichten“ der privaten oder öffentlich-rechtlichen Massenmedien Wahrheit von Täuschung zu unterscheiden, erfüllen wir in optimaler Weise alle Voraussetzungen für den Erfolg entsprechender Manipulationstechniken.

Zwar ist der menschliche Geist so beschaffen, dass es viele Möglichkeiten zu seiner Manipulation und somit für eine „Verzweckung“ von Menschen für die Machtbedürfnisse anderer gibt. Jedoch verfügen wir von Natur aus über ein reiches Repertoire an Möglichkeiten unseres Verstandes, um Manipulationskontexte erkennen und somit aktiv vermeiden zu können. Wir verfügen gleichsam über ein natürliches Immunsystem gegen Manipulation. Wir müssen uns nur entschließen, es zu nutzen.

Das Motto der Aufklärung war ja sapere aude, wage es zu erkennen, wage es zu bemerken – oder in Kants Worten, wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Nur wenn wir uns entschließen, uns unseres Verstandes zu bedienen, nur wenn wir unsere induzierte moralische Apathie überwinden, nur wenn wir nicht mehr bereit sind, uns mit der Illusion der Informiertheit, der Illusion der Demokratie, der Illusion der Freiheit zufrieden zu geben, nur dann haben wir eine Chance, diesen Manipulationstechniken zu entgehen. Das ist keine leichte Aufgabe, aber eine andere Wahl haben wir nicht. Die Entscheidung liegt bei uns.

Quellen:

Anmerkungen:

[1] Die Demokratie im antiken Athen war eine sehr weitgehende Herrschaft des Volkes; schon deswegen hat diese Form der Demokratie für die gegenwärtigen Eliten keineswegs den Vorbildcharakter, der ihr in der politischen Rhetorik oft zugeschrieben wird. „In Athens demokratia übte das Volk die volle Gesetzgebungs-, Regierungs-, Kontroll- und Gerichtsgewalt aus. Damit war die Demokratie in Athen ein Regime direkter, unmittelbarer Herrschaft des Volkes, das auf umfassender Beteiligung aller Bürger beruhte und keine Unterschiede zwischen Arm und Reich kannte. … Der athenische Demos besaß also eine beispiellose Machtkonzentration. Gesetzgebende, richtende und ausführende Gewalt gingen vom Volk aus und verblieben auch bei ihm. Regieren und Regiertwerden waren eins – oder gingen, wie Aristoteles formulierte, „wechselweise“ vonstatten.“ (Vorländer, 2004, S.10–11)
[2] Martin Gilens und Benjamin Page (2014) stellen fest: „The preferences of the average American appear to have only a miniscule, near-zero, statistically non-significant impact upon public policy.” Wenn die Mehrheit der Bürger nicht mit den ökonomischen Eliten oder mit organisierten Interessengruppen einverstanden ist, erweist sie sich in der Regel als Verlierer (“When a majority of citizens disagrees with economic elites and/or with organized interests, they generally lose.“). Selbst wenn eine ziemlich große Mehrheit amerikanischer Bürger eine Politikänderung wünscht, bekommt sie sie im allgemeinen nicht („[…] even when fairly large majorities of Americans favor policy change, they generally do not get it.“). Gilens und Page schließen aus ihren Befunden: “It is no longer possible … to believe in the original dogma of democracy.” Soviel zur Diskrepanz von politischer Rhetorik und Realität.
[3] Wallstreet Journal vom 28. Februar 2013: „That is democracy in today“s euro zone. The French, Spanish, Irish, Dutch, Portuguese, Greeks, Slovenians, Slovakians and Cypriots have to varying degrees voted against the currency bloc“s economic model since the crisis began three years ago. Yet economic policies have changed little in response to one electoral defeat after another.”
[4] Die Effektivität dieser Propaganda-Techniken wies Bernays selbst in zahlreichen Kampagnen im wirtschaftlichen und politischen Bereich nach. So unterstützte er 1954 propagandistisch sehr erfolgreich eine CIA-Operation (in deren Folge über 250.000 Zivilisten umkamen), mit der Washington den Sturz der ersten demokratischen Regierung in Guatemala betrieb (da Guatemala durch seine Agarreform und sein weitgefächertes Sozialprogramm „eine zunehmende Bedrohung“ für die „Stabilität“ Mittelamerikas geworden sei). Bernays Buch Propaganda ist bis heute ein Klassiker im politischen Geschäft und im Marketing. Es wurde auch von Goebbels geschätzt, weshalb Bernays nach dem Krieg den Begriff „Propaganda“ als belastet ansah und nun dafür den Begriff „Public Relations“ verwendete.
[5] Versuche, diese „wahre Herrschermacht unseres Landes“ sichtbarer zu machen, werden dann durch eines der erfolgreichsten Instrumente politischer Propaganda diffamiert, dem von der CIA zur Blüte gebrachten Konzept der „Verschwörungstheorie“: “The CIA’s campaign to popularize the term „conspiracy theory’ and make conspiracy belief a target of ridicule and hostility must be credited, unfortunately, with being one of the most successful propaganda initiatives of all time.” deHaven-Smith (2014, S. 25). Der Vorwurf der „Verschwörungstheorie“ stellt ein ausgezeichnetes Mittel dar, durch das sich das Wirken von Verschwörungspraktikern im Dunkeln halten lässt.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Propaganda darf, um wirksam zu sein, nicht als Propaganda erkennbar sein. Auch dies wurde vielfach explizit zum Ausdruck gebracht, so von Bernays, von Goebbels oder von US-Präsident Eisenhower. Das ist mittlerweile in einer so umfassenden und nahezu vollkommenen Weise gelungen, dass Alex Carey – in seinem Buch Taking the Risk out of Democracy – feststellen kann: “[…] that we are free from propaganda is one of the most significant propaganda achievements of the twentieth century.”
[6] “Exposure to this flood of information may serve to  narcotize rather than to energize the average reader … His social conscience remains spotlessly clean.  He is concerned. He is informed. And he has all sorts of ideas as to what should be done. But, after he has gotten through his dinner and after he has listened to his favored radio programs and after he has read his second newspaper of the day, it is really time for bed.” Paul F. Lazarsfeld & Robert K. Merton (1948). Mass communication, popular taste, and organized social action. In: L. Bryson (ed.), The Communication of Ideas. New York: Harper, S. 95–118.
[7] Ein beliebig ausgewähltes Beispiel für Sedierungseffekte: Ein Bild, das von Reuters am 8. Juni 2015 zum „picture of the day“ gekürt wurde und groß in deutschen Massenmedien, etwa auf der ersten Seite der Süddeutschen plaziert war, zeigt anläßlich des G7-Gipfels auf Schloß Elmau Angela Merkel mit US-Präsident Obama vor der romantischen Bergkulisse von Schloß Elmau – beide in wohldrapierter Entspanntheit – Obama lässig mit dem Rücken zur Kamera, den idyllischen Alpenblick genießend, Angela Merkel mit ausladender Gestik suggerierend, dass sie das große Ganze fest im Griff hat. Der politische Informationswert des Bildes ist Null, der affektive, sedierende Effekt jedoch könnte besser nicht sein. Das Bild soll uns beruhigen und uns suggerieren: Alles ist in besten Händen, „it“s really time for bed“.
[8] Die systematische Angsterzeugung durch die Massenmedien stellt dabei keine journalistische Entgleisung oder ein bloßes Mittel zur Erhöhung von Auflagenzahlen dar, sondern ist vielmehr ein wesentliches Element der affektiven Steuerung der Bevölkerung durch die jeweils herrschenden Eliten. Lasswell hat dies in seinem Standardwerk von 1927, Propaganda Technique in the World War, auf den Punkt gebracht: Es darf keine Zweifel darüber geben, auf wen sich der Haß der Öffentlichkeit zu richten hat. (“There must be no ambiguity about who the public is to hate.”) Sollte sich der Haß nicht leicht entfachen lassen, so sei es hilfreich, ihn durch Betonung von Greueltaten zu schüren. Besonders wirksam läßt sich Haß erzeugen, wenn man Personen als Ziel deklariert. Dabei sind vor allem Hitlervergleiche ein beliebtes und flexibel einsetzbares Mittel. Den Haß der Bevölkerung auf abstraktere Zielobjekte, wie Kommunismus oder „Islamismus“, zu richten, erfordert hingegen höhere und kontinuierlichere Propagandaanstrengungen – und kann daher kaum ohne Einbezug des Erziehungs- und Ausbildungswesens erfolgen. Dafür hat dies jedoch den Vorteil, dass die dadurch erreichte Angsterzeugung zeitlich sehr viel stabiler ist.
[9] Eine entsprechende Disposition in der menschlichen Urteilsbildung läßt sich auch ohne wissenschaftliche Untermauerung aus Alltagsbeobachtungen erkennen. So stellte auch der Leiter der für Pressearbeit, Film, Rundfunk und „Volksbildung“ zuständigen Reichspropagandastelle der NSDAP, Joseph Goebbels, fest, dass sich jede Lüge durch bloße Wiederholung zur Wahrheit machen lasse.
[10] Usbekistan gilt – wie auch der Tagesspiegel vom 15.1.15 berichtet – als „eine der schlimmsten Diktaturen der Welt“. Folter ist im usbekischen Rechtswesen fest verankert, wie Jahr für Jahr Menschenrechtsorganisationen feststellen. Zudem gibt es hier in großem Ausmaß staatlich organisierte Zwangs- und Kinderarbeit bei der Baumwollernte (Usbekistan ist einer der größten Baumwollexporteure weltweit). Im Jahr 2005 verübte das Regime Karimov ein Massaker an protestierenden Bürgern. Wie Amnesty International im Juni 2015 schrieb: „Vor zehn Jahren kam es in der usbekischen Großstadt Andischan zu einem spontanen Aufstand gegen das autoritäre Regime des Landes. Das Militär erschoss Hunderte überwiegend unbewaffneter Demonstranten: Kinder, Frauen, Männer. Bis heute gab es keine unabhängige Untersuchung des Massakers.“ Eigentlich ein klarer Fall für Sanktionen. Und tatsächlich hat die Europäische Union im Oktober 2005 Sanktionen gegen Usbekistan verhängt und zudem gegen den damaligen Innenminister Sokir Almatow, einen der Hauptverantwortlichen für das Massaker von Andischan, ein Einreiseverbot in die EU und somit auch nach Deutschland verhängt. Dennoch ließ Deutschland Almatov unbehelligt zu einer medizinischen Behandlung in Hannover einreisen. Usbekistan ist für Deutschland militärisch wichtig, weil die Bundeswehr einen für den Krieg in Afghanistan wichtigen Luftwaffenstützpunkt in Usbekistan betreibt. Daher bemühte sich Deutschland um eine Aufhebung der EU-Sanktionen. Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der den Diktator als erster westlicher Außenminister nach dem Massaker besuchte, hielt – zumindest in diesem Fall – nichts von Sanktionen. Sanktionen seien kein Selbstzweck und würden „nichts weiter bewirkten, als Taschkent vor den Kopf zu stoßen“ (ZEIT, 13.5.15). Steinmeier hat ja wiederholt gezeigt, dass er über die für einen „Realpolitiker“ nötige moralische Elastizität in der Beurteilung von Menschenrechtsverletzungen verfügt – sofern diese von der „richtigen“ Seite verübt werden.
Über all dies wurde in den deutschen Medien berichtet, trotzdem bleiben diese Fakten kognitiv und moralisch unsichtbar: kognitiv, weil keine Beziehung zu Fällen hergestellt wird, in denen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen Sanktionen für unabdingbar gehalten werden; moralisch, weil die Berichte über systematische Folter und Massaker an Zivilisten in den Medien so eingebettet waren, dass sie als etwas angesehen wurden, das politisch kein besonderes Gewicht hat und zudem nicht in unserem Verantwortungsbereich liegt. Kurz: Da Deutschland in diesem Fall strategische Interessen verfolgt, gehört die Duldung von Folter in Usbekistan zur deutschen Staatsraison.
[11] Offenkundig war es nicht sonderlich schwierig, auch Pinters Nobelpreisrede für die Öffentlichkeit moralisch unsichtbar zu machen. Über ihren Inhalt wurde, wenig überraschend, in den Massenmedien so gut wie nicht berichtet, und wenn, dann in abfälliger Weise. Die FAZ (8.12.2005), um nur ein Beispiel zu nennen, warf Pinter „größte Einseitigkeit“ vor. Obgleich es nichts Einseitigeres gibt als die Folterung und Ermordung eines Menschen, wird von den Massenmedien und bereitwilligen Intellektuellen gerne vorgegeben, die Einseitigkeit läge in der Benennung, nicht jedoch in der Verübung solcher Verbrechen.
[12] Dieses Beispiel ist auch lehrreich für die Rolle der Massenmedien in einer solchen Situation.
Nachdem Amnesty International ausführlich in Berichten vom 23. Juli 2003 und 18. März 2004 über US-Folterungen von Gefangenen durch Elektroschocks, Schlafentzug, Schläge oder Fesselungen der Geschlechtsteile, u.ä. hingewiesen hatte, entschieden sich die deutschen Leitmedien dafür, über diese Verbrechen erst gar nicht zu berichten und sie somit für die Bevölkerung unsichtbar zu lassen. Obwohl ARD und ZDF im eigenen Internetangebot darüber informierten, verschwieg man diese Verbrechen in „Tagesschau“, „Tagesthemen“ und „heute“. Nachdem dann am 28. April die ersten Fotos der Folterungen an die Öffentlichkeit gelangten, ließ sich das mediale Verschweigen nicht länger aufrechterhalten. Am 30. April 2004 berichtete die FAZ unter dem Titel „Ohne Bilder kein Skandal“ darüber, wie systematisch diese Verbrechen in deutschen Leitmedien verschwiegen wurden und welche Gründe prominente Leitmedien im nachhinein für die Nichtberichterstattung vor dem 28. April 2004 geltend machten: So nannte der SPIEGEL – trotz der ausführlichen Beweise in den Amnesty-Berichten – „fehlende Beweise“ als Grund, die Süddeutsche Zeitung war der Überzeugung, dass die Amnesty-Berichte über Elektroschocks, Schläge oder Fesselungen der Geschlechtsteile „wenig konkrete Informationen“ seien, und für den STERN hatten sich die Inhalte der Amnesty-Berichte durch „Dementis von US-Stellen“ als irrelevant erledigt. Da nun aber durch die Veröffentlichung der Bilder die Fakten nicht mehr zu leugnen waren, trat man die Flucht nach vorne an und beeilte sich gegenüber der Öffentlichkeit, die systematische Nichtberichterstattung als einen bedauerlichen journalistischen Ausnahmefall darzustellen. So sprach die FAZ von einer „Chronik eines kollektiven Versagens“ und erklärt damit die tatsächliche Regel der Funktionsweise der Massenmedien zur scheinbaren Ausnahme.
[13] Beispielsweise im U.S. Army Field Manual von 2001: „calculated use of unlawful violence or threat of unlawful violence to inculcate fear. It is intended to coerce or intimidate governments or societies … [to attain] political, religious, or ideological goals.“
[14] Im Rahmen der Operation Phoenix der CIA wurden in Vietnam zwischen 1965 und 1972 mehr als 40.000 Zivilisten – überwiegend Frauen und Kinder – ermordet. Darüber wurde auch in deutschen Leitmedien, etwa im SPIEGEL vom 16. April 2004, berichtet. Bernd Greiner schreibt in seinem Buch Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam: „Sieben Monate lang zog die Tiger Force eine Blutspur durch Qang Tin und das Song Ve-Tal. Sie erschossen ohne jeden Anlaß Bauern im Feld und mordeten Menschen, die ihnen zufällig über den Weg liefen, folterten Gefangene und führten sie einzeln oder in Gruppen zur Exekution, fielen spätabends oder am frühen Morgen in Dörfer ein und streckten mit Maschinengewehren alle nieder, derer sie habhaft werden konnten – Bauern, die sich zum Essen versammelt hatten oder schliefen, Kinder, die im Freien spielten, Alte beim Spaziergang. […] Sie stahlen und brandschatzten, prügelten ihre Opfer zu Tode oder vergewaltigten sie bis zur Bewußtlosigkeit, sie erschossen Bewohner, die kurz zuvor abgeworfene Flugblätter in Händen hielten und der Aufforderung zur Evakuierung nachkommen wollten, sie veranstalteten „Zielschießen“ auf Personen, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielten. Sie verschonten weder Verwundete noch Kranke, schossen aus der Distanz mit der M-16 wie aus nächster Nähe mit Handfeuerwaffen.“ Eine Bekämpfung von Menschen, die sich unseren Idealen nicht beugen wollen, hat eben ihren Preis. Niemand von diesen Einheiten ist für diese Verbrechen juristisch zur Rechenschaft gezogen worden.
Die geschichtliche Kontinuität der damaligen und der heutigen Formen der „Aufstandsbekämpfung“ bleibt bei Darstellungen in den Massenmedien, wie bei dem NYT-Bericht, infolge der Fragmentierung und historischen De-Kontextualisierung für die Öffentlichkeit unsichtbar.
[15] Mitglieder der APA waren auch an der Entwicklung und Durchführung der in Guantánamo praktizierten Foltertechniken beteiligt, und die APA bemühte sich öffentlich um eine Rechtfertigung dieser Techniken. Überhaupt hat die Zusammenarbeit von APA und CIA eine lange Tradition.

 

Literaturhinweise:

Demokratie:
Gilens, M. & Page, B.I. (2014) Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens. Perspectives on Politics 12, 564-581.
Tarkiainen, T. (1966). Die Athenische Demokratie. Artemis.
Vorländer, H. (2004). Grundzüge der athenischen Demokratie; Prinzipien republikanischen Denkens; Wege zur modernen Demokratie; in: Informationen zur Politischen Bildung, Heft Nr. 284.
Welwei, K. W. (1983). Die griechische Polis. Verfassung und Gesellschaft in archaischer und klassischer Zeit. Kohlhammer.

Demokratie und Propaganda:
Bernays, E. (1928/2011). Propaganda: Die Kunst der Public Relations. orange-press.
Carey, A. (1997). Taking the Risk Out of Democracy. Corporate Propaganda versus Freedom and Liberty. University of Illinois Press.
Chomsky, N. (1990). Necessary Illusions. Thought Control in Democratic Societies. Pluto Press.
Chomsky, N. (2003). Media Control: Wie die Medien uns manipulieren. Europa-Verlag.
deHaven-Smith, L. (2014). Conspiracy Theory in America. University of Texas Press.
Müller, A. (2009). Meinungsmache: Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen. Droemer-Verlag.
Ploppa, H. (2014). Die Macher hinter den Kulissen, Wie transatlantische Netzwerke heimlich die Demokratie unterwandern, Nomen-Verlag.

Menschenrechtsverletzungen der ,westlichen Wertegemeinschaft“:
Chomsky, N. (2003). Hybris. Die endgültige Sicherung der globalen Vormachtstellung der USA. Europa-Verlag.
George, A. (Hrsg.) (1991). Western State Terrorism. Polity Press.
Greiner, B. (2009). Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam. Hamburger Edition.
Jones, A. (Hrsg.) (2004). Genocide, War Crimes & the West. ZED Books.
Peck, J. (2010). Ideal Illusions. How the U.S. Government Co-opted Human Richts. Metropolitan Books.
Risen, J. (2014). Pay Any Price: Greed, Power, and Endless War. Houghton Mifflin Harcourt.
Scahill, J. (2013). Schmutzige Kriege. Amerikas geheime Kommandoaktionen. Kunstmann-Verlag.
Tirman, J. (2011). The Deaths of Others: The fate of civilians in America’s wars. Oxford University Press.
Turse, N. (2013). Kill Anything That Moves: The Real American War in Vietnam. Picador.
Valentine, D. (1990). The Phoenix Program: America’s Use of Terror in Vietnam. William Morrow & Co.

Vortrag

„Warum schweigen die Lämmer?“

Der berühmte Vortrag von Rainer Mausfeld zu den Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements zum Nachlesen: Moralisch unsichtbar sind Verletzungen moralischer Normen, wenn sie zwar als Fakten sichtbar sind, jedoch in einen Kontext eingebettet sind, der verhindert, dass sie in der Bevölkerung ein moralisches Unbehagen oder Empörung auslösen. Ein Beispiel sind die gesellschaftlichen und humanitären Folgen der mit der neoliberalen Wirtschaftsordnung einhergehenden strukturellen Gewalt, wie sie vor allem in der sog. ‚Dritten Welt‘, doch zunehmend auch in den westlichen Industrieländern sichtbar werden.

Von Published On: 17. Februar 2019Kategorien: Gesellschaft & Geschichte

Der Vortrag von Rainer Mausfeld wurde zuerst von Reiner Heyse als Videomitschnitt auf Youtube unter der URL https://youtu.be/Rx5SZrOsb6M veröffentlicht.

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Professor Mausfeld bot in seinem berühmten Vortrag an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel vom 22. Juni 2015, der als moderner Aufklärungsklassiker gilt, anhand von vielen Beispielen einen Einblick in die tatsächliche Verwaltung unserer Demokratie und wie mit den Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements die Menschen in Apathie und der Illusion des Informiertseins gehalten werden.

Wie einer der Kommentatoren des damaligen Videomitschnitts des Vortrages auf Youtube schrieb, „Etwas trocken im Anbiss, aber kernig und gehaltvoll beim Kauen …“ oder ein anderer „Das sollte man allen Realitätsverweigerern unter die Nase reiben. Die Perfidität hat System.“

 

Prof. Mausfeld hatte damals unser Transkript komplett überarbeitet und Free21 die nachfolgende lesefreundliche Fassung zur Verfügung gestellt:

Vortrag von Prof. Dr. Rainer Mausfeld „Warum schweigen die Lämmer?“

Moralisch unsichtbar sind Verletzungen moralischer Normen, wenn sie zwar als Fakten sichtbar sind, jedoch in einen Kontext eingebettet sind, der verhindert, dass sie in der Bevölkerung ein moralisches Unbehagen oder Empörung auslösen. Ein Beispiel sind die gesellschaftlichen und humanitären Folgen der mit der neoliberalen Wirtschaftsordnung einhergehenden strukturellen Gewalt, wie sie vor allem in der sog. „Dritten Welt“, doch zunehmend auch in den westlichen Industrieländern sichtbar werden.

Kognitiv unsichtbar sind Verletzungen moralischer Normen, wenn sie zwar als Fakten sichtbar sind, jedoch in einen Kontext eingebettet sind, der verhindert, dass Schlußfolgerungen aus ihnen gezogen werden. Insbesondere werden in derartigen Fällen keine Beziehungen zu vergleichbaren Fällen hergestellt, die von den jeweiligen Eliten nach gänzlich anderen Kriterien bewertet werden. Ein Beispiel sind die sog. gezielten Tötungen („targeted killings“) von Personen, die von einem Staat als Sicherheitsrisiko angesehen werden. Derartige Morde stellen einen klaren Bruch des Völkerrechts dar und würden in vergleichbarer Weise nicht akzeptiert, wenn sie von Staaten durchgeführt würden, die von „uns“ als „Gegner“ angesehen werden.

Die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Fakten wird wesentlich durch die Massenmedien vermittelt, die neben den Fakten in der Regel auch den gewünschten Interpretationskontext und damit das „politische Weltbild“ vermitteln. Das Thema gehört also zu unserem gesellschaftlichen Lebensalltag und geht uns alle an. Die Fragen, die sich hierbei stellen, sind grundlegender und zumeist recht elementarer Natur. Für die Auseinandersetzung mit ihnen benötigt man kein Expertenwissen, auch wenn die herrschenden Eliten sich bemühen, Diskurse über derartige Themen auf Gruppen „geeigneter Experten“ zu beschränken. Für Themen, die uns alle als Citoyens angehen, also als Bürger, die sich im Geiste der Aufklärung um die Gestaltung unseres Gemeinwesens bemühen, sind wir von Natur aus mit einem natürlichen Vermögen unseres Geistes ausgestattet, einem „Licht der Vernunft“ – einem lumen naturale, wie man es in der Aufklärung nannte. Den wesentlichen Kern der Fragen, um die es bei unseren Themen geht, können wir also auch ohne eine Spezialistenausbildung behandeln. Und darum soll es in diesem Vortrag gehen.

 

 

Zu dem natürlichen Vermögen unseres Geistes gehört die Befähigung, die Begrifflichkeiten zu hinterfragen, mit denen man im gesellschaftlich-politischen Bereich Phänomene und Fakten kategorisiert, ordnet und bewertet. Prominentes Beispiel ist der neoliberale Neusprech zur Verhüllung und Verdeckung des tatsächlich Gemeinten, mit dem man leicht ein Orwellsches Neusprech-Wörterbuch füllen könnte. Hierzu gehören Begriffe wie Strukturreformen, Reformwille, Bürokratieabbau, Deregulierung, Stabilitätspakt, Austerität, Euro-Rettungsschirm, freier Markt, schlanker Staat, Liberalisierung, Harmonisierung, marktkonforme Demokratie, alternativlos, Humankapital, Leiharbeit, Lohnnebenkosten, Sozialneid, Leistungsträger, etc. etc. Derartige Begriffe transportieren ideologische Weltbilder, deren totalitären Charakter es aufzudecken und zu benennen gilt. Damit wir diesen ideologischen Weltbildern nicht unbewußt und ungewollt erliegen, müssen wir die stillschweigenden Prämissen, Vorurteile und ideologischen Komponenten in der Begrifflichkeit, in der wir über gesellschaftlich-politische Phänomene sprechen, identifizieren und bewußt machen. Auch für diese Tätigkeit benötigen wir kein Expertenwissen. Hierfür sind wir alle von Natur durch das natürliche Vermögen unseres Geistes ausgestattet, auch wenn es dies zu üben und zu verfeinern gilt.

Wir wollen hier also versuchen, einige stillschweigende Prämissen und ideologischer Komponenten zu identifizieren, die sich in der Begrifflichkeit verbergen, mit der in demokratischen Gesellschaften die jeweils herrschenden Eliten ihre Macht zu stabilisieren suchen. Zuvor möchte ich jedoch das, worum es beim Problem des Unsichtbarmachens von Fakten geht, mit einem Wahrnehmungsphänomen illustrieren.

In diesem Bild sehen wir etwas, das wir vermutlich als Fragmente von Objekten wahrnehmen, ohne dass wir hier den tatsächlichen Bedeutungszusammenhang dieser Fragmente erkennen können. Warum ist hier der Bedeutungszusammenhang unsichtbar? Die Antwort, die die Wahrnehmungspsychologie hierzu gibt, besagt im wesentlichen, dass das Wahrnehmungssystem seine Bedeutungskategorien solange nicht zur Anwendung bringen kann, solange die Fragmentierungsursache selbst nicht erkennbar ist. Sobald man – bei exakt gleichgebliebenen Objektfragmenten – die Ursache sichtbar macht, durch die die Objekte fragmentiert sind, können wir mühelos das Verdeckte ergänzen und den Sinnzusammenhang erkennen. Hierin zeigt sich eine allgemeine Gesetzmäßigkeit des Psychischen, die auch bei unserem Thema von Interesse ist. Ein Sinnzusammenhang von Fakten läßt sich durch eine fragmentierte Darbietung gleichsam unsichtbar machen. Wir nehmen dann, wie in der Regel beim Lesen einer Tageszeitung, nicht mehr als eine Ansammlung isolierter Informationsfragmente wahr. Sobald jedoch bei einer Fragmentierung von Informationen die Ursache der Fragmentierung erkennbar wird, haben wir keine Schwierigkeiten, den Bedeutungszusammenhang zu erkennen.

Das Paradoxon der Demokratie

Bei unserem Thema geht es also auch darum, warum man oder wie man durch Fragmentierung Sachverhalte unsichtbar machen kann. Das führt direkt zu der Frage, wer will Sachverhalte unsichtbar machen und wer will Sachverhalte für wen unsichtbar machen? Um diese Frage zu verstehen, müssen wir mit etwas beginnen, das oft als „Paradoxon der Demokratie“ bezeichnet wird, nämlich mit einem Problem der Beziehung von Eliten und Volk. Die systematische Untersuchung dieses Problems geht bis in die Antike zurück. Im politischen Diskurs wird das Volk oftmals mit einer Herde verglichen, mit einer Herde, die zu irrationalen Affekten neige und die es folglich zu kontrollieren gelte. Für die politische Führung eines Volkes sei es daher wichtig, das Schweigen der Herde zu interpretieren und im Sinne ihres politischen Handelns zu deuten. In neuer Zeit ist dieses Thema ist vor allem durch Richard Nixon populär geworden, der seinerzeit das Schweigen der „silent majority“ als Zustimmung zum Vietnamkrieg gedeutet hat.

 

 

Der griechische Historiker Thukydides (454–399 v.u.Z) war der erste, der sich in systematischer Weise mit diesen Fragen beschäftigt hat. Thukydides war auch der erste, der die enge Beziehung zwischen unseren Vorstellungen über Regierungsformen und unseren Annahmen über die Natur des Menschen erkannt hat. Jede Art von Regierungsform hängt, implizit oder explizit, immer auch damit zusammen, welches Bild wir uns von der Natur des menschlichen Geistes machen. Thukydides war der Auffassung, dass die Masse eine Neigung zu Affekten und Leidenschaft hat, auf Kosten der Vernunft: „Die Masse ist in ihren Auffassungen unstet und wetterwendisch,für ihre Fehlleistungen macht sie andere verantwortlich …“ Die politischen Führer andererseits seien in ihrem Handel vor allem geleitet durch ein „Verlangen nach Macht, um Herrschsucht und Ehrgeiz zu befriedigen.“ Thukydides erkannte, dass jede gute Organisationsform einer Gesellschaft den Schwachstellen der menschlichen Natur Rechnung tragen muss. Die Regierungsform einer Demokratie könne dies nach seiner Auffassung nicht leisten. Als Idealform sah er vielmehr – geleitet durch die Regierung des Perikles – eine Regierungsform an, die „dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit die Herrschaft des Ersten Mannes“ sei.

Aristoteles vertrat eine ähnliche Auffassung. Er sah die Timokratie, die „Herrschaft der Angesehenen und Besitzenden“, als ideale Regierungsform an. Dabei sollten demokratische und oligarchische Elemente so ausgewogen werden, dass weder die Masse oder die Armen noch die Eliten oder die Reichen eine Übermacht gewinnen könnten. Demokratie sah Aristoteles als eine Verfallsform der Timokratie an. Denn die Demokratie beinhalte die Möglichkeit, dass „die Armen, weil sie die Mehrheit bildeten, das Vermögen der Reichen unter sich teilten“, was Aristoteles als Unrecht ansah. Derselbe Grundgedanken findet sich auch an den Ursprüngen der amerikanischen Verfassung: Jede Regierungsform müsse so gestaltet sein, dass sie die Minorität der Reichen gegen die Majorität der Armen schützt („to protect the minority of the opulent against the majority“), sagte James Madison (1751–1836), einer der Gründungsväter der amerikanischen Verfassung. Madisons Lösungsvorschlag für dieses Spannungsverhältnis zwischen Volk und Eliten war die „repräsentative Demokratie“ – de facto also eine Form der Oligarchie -, mit der sich die Sicherung der Eigeninteressen der Minorität der Reichen gewährleisten lasse.

Diese wenigen Beispiele mögen als Illustration dafür genügen, dass die gesamte abendländische Ideengeschichte durchzogen ist von einer tiefen Demokratieskepsis und oftmals Demokratiefeindlichkeit. (1)

Im politischen Diskurs wie auch in der politischen Rhetorik der Neuzeit spielt der Begriff der Demokratie dennoch eine immer größere Rolle. Demokratie ist nun nicht nur eine von möglichen Herrschaftsformen, sondern sie ist die einzige Form, in der sich politische Macht überhaupt legitimieren läßt. Zugleich betrachten die herrschenden Eliten Demokratie als eine „notwendige Illusion“ und bemühen sich hinter der Rhetorik von Demokratie zugleich, die zur Sicherung ihrer Eigeninteressen geeigneten oligarchischen Strukturen zu etablieren. Dabei werden von ihnen ernsthafte demokratische Errungenschaften als „excess of democracy“ deklariert und demokratische Strukturen in einer Weise zu erodieren versucht, die für die Bevölkerung möglichst nicht sichtbar sind – ein Prozeß, der sich in der Gegenwart in beängstigender Weise beschleunigt hat. Für Beispiele mögen als Stichworte die Gesetzgebungsverfahren der EU, Weltbank, IWF, TTIP sowie „Troika“ genügen.

 

 

Das Etablieren oligarchischer Strukturen unter demokratischem Deckmantel ist in beeindruckendem Maße gelungen, denn westliche Demokratien haben tatsächlich eher den Charakter von Oligarchien. Diese Auffassung wird nicht nur von Kritikern dieses Entdemokratisierungsprozesses vertreten, sondern sie wird auch von den herrschenden Eliten selbst geteilt. Beispiel USA: In einem Bericht von 1975 mit dem Titel „The Crisis of Democracy“ – die Krise der Demokratie bezieht hier darauf, dass die Autoren ein „Übermaß an Demokratie“ (“excess of democracy“) diagnostizierten – stellte Samuel Huntington fest, dass zu Zeiten, als Präsident Truman noch in der Lage war, das Land lediglich mit einer Handvoll Wallstreetbankern zu regieren (“to govern the country with the cooperation of a relatively small number of Wall Street lawyers and bankers”), das Management von „Demokratie“ noch relativ einfach war. Seitdem konnte der “excess of democracy“ umfassend korrigiert werden, so dass die Washington Times vom 21. April 2014 feststellen kann: „America is no longer a democracy – never mind the democratic republic envisioned by Founding Fathers.“. Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter nannte in einem Interview am 28. Juli 2015 die USA eine “oligarchy” mit einer “unlimited political bribery”. Der oligarchische Charakter der USA stellt also für die Eliten eine Art offenkundigem Fakt dar. Wer derartige Äußerungen der Elite kein Gewicht beimißt, wird vielleicht das eigentlich Offensichtliche eher anerkennen, wenn es mit wissenschaftlicher Methodik belegt wird. Die Politikwissenschaftler Martin Gilens und Benjamin Page (2014) haben jüngst am Beispiel der USA untersucht, mit welchem Stimmgewicht der Willen der großen Masse des Volkes in politische Entscheidungen eingeht. Ihre Analysen zeigen, dass das Stimmgewicht nahe bei Null liegt und dass siebzig Prozent der Bevölkerung überhaupt keinen Einfluss auf politische Entscheidungen haben. [2]

Das sieht in Europa nicht anders aus. Will man ein halbwegs realistisches Bild von der tatsächlichen Situation bekommen, ist es besonders erhellend, interne Informationsmedien der jeweiligen Eliten heranzuziehen, beispielsweise das Wallstreet Journal. In diesen Medien findet man bisweilen einen relativ ungetrübten Blick auf die Realitäten, weil es für die Finanzelite und für das Geschäftemachen wichtig ist, einen ideologisch nicht allzu verzerrten Blick auf die Realitäten zu haben. Da sich diese Informationsmedien an Mitglieder der Eliten richten, können sie auf die krude politische Rhetorik und Propaganda verzichten, die man in Massenmedien für die Bevölkerung bereit hält. Das Wallstreet Journal vom 28. Februar 2013 stellt nüchtern fest, dass das neoliberale Programm – trotz entsprechender Wahlentscheidungen in zahlreichen Ländern – nicht mehr demokratisch abwählbar ist. [3] Auch in Europa erweist sich also die Auffassung als Illusion, dass die Wähler in einem ernsthaften Sinne den Ausgang der Wahl bestimmten oder durch die Wahl Einfluß auf „systemrelevante“ politische Entscheidungen hätten.

Das ist nun gerade bei Fragen der Wirtschaftspolitik wenig überraschend, denn Neoliberalismus und Demokratie sind in der Tat miteinander unvereinbar. Milton Friedman (1912 – 2006), einer der Gründungsväter des Neoliberalismus, hat dies 1990 offen zum Ausdruck gebracht: „a democratic society once established, destroys a free economy“ (Newsletter of the Mont Pelérin Society) – was es natürlich aus Sicht der Eliten zu verhindern gilt. Demokratie wird also nur soweit als „zulässig“ angesehen, wie der Bereich der Wirtschaft von demokratischen Entscheidungsprozessen verschont ist – also solange sie keine Demokratie ist. In diesem Sinne ist weltweit der Neoliberalismus der größte Feind von Demokratie. Aus Sicht multinationaler Konzerne stellt Demokratie vor allem ein Geschäftsrisiko dar. Wenn die Bevölkerung partout nicht bereit ist einzusehen, dass die Organisation einer Gesellschaft wirtschaftlichen „Sachzwängen“ Rechnung zu tragen hat und dass Löhne und Sozialleistungen äußerst nachteilige Faktoren für die Kapitalvermehrung sind, müssen durch die herrschenden Eliten eben geeignete „Strukturanpassungsmaßnahmen“ auf autoritärem Wege durchgesetzt werden.

Eine wirklich demokratisch organisierte Gesellschaft ist also mit den von den herrschenden Eliten favorisierten Gesellschaftsformen unvereinbar. Wenn schon „Demokratie“ im politischen Geschäft als eine „notwendige Illusion“ erachtet wird, dann sollte die Demokratie eher die Form einer durch geeignete Experten gelenkten „Zuschauerdemokratie“ („spectator democracy“) annehmen als die einer partizipatorischen Demokratie. In einer Zuschauerdemokratie läßt sich die Illusion der Demokratie aufrechterhalten und zugleich eine Stabilität des gegenwärtigen Status politischer Eliten gewährleisten.

 

 

Genau mit diesen Problemen beschäftigte sich auch der zuvor genannte einflußreichen Bericht „The Crisis of Democracy. Dieser Bericht war 1975 im Auftrag der sogenannten „Trilateralen Kommission“ erstellt worden. „Trilateral“ bezieht sich darauf, dass die Mitglieder dieser elitären Beratungskommission aus den drei großen Wirtschaftsblöcken Nordamerika, Europa und Japan stammten. Die Trilaterale Kommission hat enge Beziehungen zu anderen Elitenetzwerken, insbesondere zur Bilderbergkonferenz und zur Atlantik-Brücke. Mitglieder in der deutschen Sektion sind beispielsweise Joseph Ackermann, Gerhard Schröder, Edelgard Buhlmahn oder Theo Sommer

In dem Bericht „The Crisis of Democracy“ wird festgestellt, dass sich die durch ein „Übermaß an Demokratie“ verursachte Krise der Demokratie nur lösen lasse und sich Demokratie nur (im Sinne der Eliten) handhaben lasse, wenn einige Individuen und Gruppen ein gewisses Maß an Apathie und Unbeteiligtheit aufweisen („The effective operation of a democratic political system usually requires some measure of apathy and noninvolvement on the part of some individuals and groups.”) Wobei es sich von selbst versteht, dass es sich bei den Individuen und Gruppen, deren „Unbeteiligtheit“ als wesentlich für eine „effektive Handhabung“ einer Demokratie angesehen wird, nicht um Mitglieder der herrschenden Eliten handelt, sondern eben um das Volk. Die von den herrschenden Eliten gewünschte Zuschauerdemokratie läßt sich also nur erreichen, wenn die Bevölkerung weitgehend entpolitisiert ist und von politischer Lethargie und moralischer Apathie befallen ist.

Dieses Ziel läßt sich nur erreichen, wenn geeignete Techniken verfügbar sind, insbesondere Techniken der Apathie-Induktion (durch Sorgen um den finanziellen Lebensunterhalt, Angsterzeugung, Konsumismus, etc.), Techniken des Meinungsmanagements und Techniken des Empörungsmanagements.

Demokratie und Propaganda

Vergleicht man Vor- und Nachteile verschiedener Regierungsformen , so sei – wie der amerikanische Politikwissenschaftler Harold Lasswell (1902–1978) im Einklang mit einer in der Elite weitverbreiteten Auffassung kundtat – der Demokratie dann der Vorzug zu geben, wenn es zugleich gelänge, die Bürger in Übereinstimmung mit dem politischen System und mit den Entscheidungen, die eine spezialisierte politische Klasse für sie trifft, zu halten. Dies könne nur durch geeignete Techniken der Propaganda gewährleistet werden. Propaganda gehöre also wesenhaft und zwangsläufig zu einer „funktionsfähigen“ Demokratie. Techniken des Meinungsmanagements hätten zudem gegenüber den Kontrolltechniken einer Diktatur den Vorteil, dass sie „kostengünstiger als Gewalt, Bestechung oder irgendwelche anderen Kontrolltechniken“ seien (“cheaper than violence, bribery or other possible control techniques.“). In diesem Sinne könne man also Demokratie, wenn sie durch ein Meinungsmanagement gelenkt sei, als eine optimale Regierungsform angesehen.

In einer besonderen – und heute naheliegenderweise nicht mehr üblichen – Offenheit wurde dies auch durch Edward Bernays (1891–1995) zum Ausdruck gebracht. Edward Bernays war der einflußreichste Propagandist von Propaganda, deren Grundlagen und Techniken er in seinem 1928 erschienenen Buch Propaganda ausarbeitete. Als Propaganda sind alle systematischen Versuche anzusehen, die darauf zielen, die natürliche Urteilsfähigkeit von Menschen zu unterminieren und Einstellungen, Überzeugungen und Meinungen zu erzeugen, durch die sich Menschen zum Vorteil der jeweils herrschenden Eliten missbrauchen lassen (,Entmündigung“, ,Verzweckung“). [4]

In seinem Buch schreibt Bernays: „Die bewußte und intelligente Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie bilden eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist.“ Wir müssen uns dabei klarmachen, dass die von Bernays beschriebene Situation nicht ein Ziel war, sondern bereits der Ist-Zustand der damaligen Zeit – diese Situation hat sich seitdem natürlich noch beträchtlich verschärft. Propaganda ist heute als ein notwendiger Teil des Indoktrinationssystems aller westlichen Gesellschaften anzusehen. Und die „unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist“, besteht aus nahezu unsichtbaren Geweben von Netzwerken verschiedener Eliten. Diese „lenken die gesellschaftlichen Abläufe“. Sie steuern politische Entscheidungen und vermitteln diese durch die „eingebetteten Journalisten“ der Massenmedien der Öffentlichkeit als unvermeidliche Sachzwänge zum Wohle der Bevölkerung. [5]

Wie kann man nun diesen von den Eliten gewünschten Zustand einer „unsichtbaren Regierung“ und einer durch ein geeignetes Maß an Apathie charakterisierten Bevölkerung erreichen? Eine zentrale Rolle spielen dabei natürlich die Massenmedien. Über deren Funktion finden wir sehr klare Einsichten bei Paul Lazarsfeld, einem der bedeutendsten Kommunikationsforscher und zugleich einem der Begründer der modernen empirischen Sozialforschung: „Man muss die Bürger mit einer Flut von Informationen überziehen, so dass sie die Illusion der Informiertheit haben.“ Durch diese Illusion der Informiertheit hat der Bürger ein politisch reines Gewissen; er fühlt sich über alles Wesentliche unterrichtet und kann abends beruhigt zu Bett gehen. [6]

In dieser Hinsicht zählen für Lazarsfeld die Massenmedien zu den “most respectable and efficient of social narcotics”. Wenn man durch sie den Bürgern das Gefühl der Informiertheit gibt und wenn sie dann beim Frühstück die Süddeutsche Zeitung gelesen haben, nachmittags noch einmal in Spiegel Online geschaut haben und sich abends die Tagesschau angesehen haben, sind sie von ihrem Gefühl der Informiertheit so überwältigt, dass sie die Krankheit, an der sie leiden – so Lazarsfeld – nicht einmal mehr erkennen können („to keep the addict from recognizing his own malady“).

Besonders die sog. gebildeten Schichten sind anfällig für die Illusion des Informiertseins. Diese Schichten sind aus naheliegenden Gründen in besonderem Grade durch die jeweils herrschende Ideologie indoktriniert – das war im Nationalsozialismus nicht anders als heute; sie sind durch ihre schweigende Duldung ein wichtiges Stabilisierungselement der jeweils herrschenden Ideologien.

Beispiele, wie eine solche Narkotisierung auf affektivem Wege zu erreichen ist, finden sich genügend. [7]

Neben Techniken der Sedierung spielen im politischen Bereich der affektiven Kontrolle Techniken der Angsterzeugung eine besondere Rolle. In der Legitimationsrhetorik für militärische „Interventionen“ bedient man sich gerne einer Doppelstrategie: Die gebildeteren Teile der Bevölkerung lassen sich recht leicht unter dem Banner von „humanitären Interventionen“ für Angriffskriege gewinnen, der übrige Teil lässt sich am leichtesten durch Angsterzeugung vor bösartigen und gewalttätigen Kräften gewinnen. Ein historisch berühmtes Beispiel mit gewaltigen Konsequenzen zeigt den damaligen US-Außenminister Colin Powell am 5. Februar 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat, in der Hand ein pulvergefülltes Röhrchen. Es sollte den „eindeutigen Beleg“ dafür demonstrieren, dass Sadam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfüge. Dieser „Nachweis“ richtete sich vor allem an die amerikanische Bevölkerung und hatte das Ziel, deren Ängste so zu erhöhen, dass sie die schon lange geplante US-Invasion des Irak befürwortet. Diese Affektmanipulation war höchst wirkungsvoll, mit dem Kollateraleffekt, dass in der Folge mehr als 100.000 irakische Zivilisten ermordet wurden. Das folgenschwerste jüngste Beispiel, wie sich mit Angsterzeugung hegemoniale Politik machen läßt, ist die Berichterstattung der Massenmedien über Russland und die Ukraine. [8]

 

 

Insgesamt sind zur Lenkung der Bevölkerung Techniken vorzuziehen, die nicht nur kurzzeitig wirken, sondern länger anhaltende Effekte haben. In diesem Sinne ist eine Steuerung von Meinungen wichtiger als eine rein affektive Steuerung. Denn Meinungen sind zumeist stabiler als Affekte. Daher kommt Techniken eine besondere Rolle zu, durch die man Meinungen in geeigneter Weise steuern kann. Ich will hier nur auf ein paar recht einfache Aspekte eingehen. Für diese einfachen Techniken benötigt man keine besonderen Kenntnisse der Psychologie, sie sind das Standardgeschäft der Massenmedien:

1. Deklariere Fakten als Meinungen. In der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen, liegt, wie Hannah Arendt bemerkte, einer der erschreckendsten Aspekte totalitärer Denksysteme.

2. Fragmentiere die Darstellung eigentlich zusammenhängender Fakten so, dass der Sinnzusammenhang verloren geht.

3. De-kontextualisiere Fakten, löse
sie aus ihrem eigentlichen Zusammenhang, so daß sie als isolierte Einzelfälle erscheinen.

4. Re-kontextualisiere Fakten, bette sie so in einen neuen, mit „positiven“ Begleitvorstellungen versehenen Kontext ein, dass sie ihren ursprünglichen Sinnzusammenhang und ein damit möglicherweise verbundenes moralisches Empörungspotential verlieren.

Über diese recht einfachen Techniken hinaus, hat die Psychologie eine Fülle von sehr viel subtileren und teilweise überraschenden Mechanismen unserer Entscheidungs- und Meinungsbildung identifiziert, die sich für eine sehr effektive Meinungssteuerung nutzen lassen. Dies gilt um so mehr, als zentrale Prozesse unserer Entscheidungs- und Meinungsbildung unbewußt ablaufen und keiner willentlichen Kontrolle zugänglich sind. Ich will hier nur zwei einfache Beispiele anführen:

i) Eine Reihe experimenteller Studien zeigt, dass eine Aussage, die die Experimentatoren gemacht haben, im eingeschätzten Wahrheitsgehalt der Beobachter steigt, je häufiger sie präsentiert wird, und zwar auch dann, wenn sie zuvor vom Experimentator ausdrücklich als falsch deklariert wurde. Diese Prozesse laufen automatisch und unbewußt ab. Wir können uns also nicht dagegen wehren. Selbst wenn man die Versuchsperson zuvor über dieses Phänomen aufklärt, ändert dies nichts an dem Effekt: Je häufiger sie eine Meinung hört, um so stärker steigt der gefühlte Wahrheitsgehalt. Beispiele aus der Tagespresse gibt es auch hier in Hülle und Fülle, seien es „die reformunwilligen Griechen“ oder, im Zusammenhang mit der Krim, die Bezeichnung „Annexion“. Allein durch dauernde Wiederholung steigt tendenziell der gefühlte Wahrheitswert. [9]

ii) Je weniger wir uns in einem Bereich auskennen, um so stärker neigen wir dazu, die Wahrheit gleichsam in der Mitte zu suchen. Wir neigen also dazu, alle Meinungen als gleichberechtigt anzusehen, und meiden die als „extrem“ angesehenen Ränder des beobachteten Meinungsspektrums, selbst dann, wenn tatsächlich die „richtige“ Auffassung dort verortet ist.

Die öffentliche Meinungsbildung läßt sich also sehr wirkungsvoll bereits dadurch steuern, daß man zunächst die „Ränder“ dessen festlegt, was noch als „vernünftig“ anzusehen ist. Wer also die Ränder des in der Öffentlichkeit sichtbaren Meinungsspektrum markieren kann und damit die Ränder des „vernünftigerweise Akzeptablen“, der hat schon einen großen Teil des Meinungsmanagements erreicht. In einer neoliberalen, also „markkonformen“ Konzeption von „Demokratie“ ist es naheliegenderweise besonders wichtig, den linken Rand des „Zulässigen“ – also dessen, was man noch „verantwortlich“ vertreten kann – zu markieren. Beispielsweise können die herrschenden Eliten die Auffassungen von Jürgen Habermas als das Äußerste deklarieren, was wir „in unserer liberalen Demokratie“ vernünftigerweise zu akzeptieren bereit sind. Positionen, die radikaler sind und deutlicher auf das Zentrum der Macht zielen, werden dann bereits durch diese nahezu unsichtbare Markierung der Grenzen des „Akzeptablen“ für die Öffentlichkeit als „Unverantwortlich“ gekennzeichnet. Sie gehören damit nicht mehr zum Bereich dessen, was „sinnvoll“ diskutiert werden kann.

Wie lassen sich politisch nachteilige Fakten kognitiv und moralisch unsichtbar machen?

Wenn wir unseren Blick etwas geschärft haben für diese Techniken des Meinungsmanagements, können wir uns mit einem interessanten Paradox beschäftigen, das durch die Geschichte leider im Übermaß belegt wird: eine Art Selbsteinschätzung-Verhaltens-Paradox. Auch auf der Ebene von Staaten und Nationen fallen Selbsteinschätzung und Verhalten auseinander. Staaten können mit Billigung und Unterstützung der Mehrzahl ihrer Bürger schlimmste Greueltaten – wie Folter, Massenmorde und Völkermord – begehen und dennoch davon überzeugt sein, dass ihre Taten moralisch nicht verwerflich seien. Dieses Phänomen wirft tiefgehende Fragen zu unserer Natur auf. Denn eigentlich verfügen wir ja über eine natürliche moralische Sensitivität, über ein natürliches Urteilsvermögen für das, was wir als Unrecht ansehen – zumindest dann, wenn es die Taten anderer betrifft. Damit es zu dem genannten Paradox kommen kann, muß unser natürliches moralisches Urteilsvermögen in geeigneter Weise unterlaufen oder blockiert werden. Am einfachsten ist dies zu bewerkstelligen, wenn man die von „unserer“ Gemeinschaft begangenen Greueltaten „moralisch unsichtbar“ macht.

Zunächst mag es schwierig erscheinen, offenkundige Fakten unsichtbar zu machen, doch die Zauberkunst illustriert uns, dass es gar nicht so schwer ist, dies durch ein geeignetes Aufmerksamkeitsmanagements zu bewerkstelligen.

Ein Gemälde „Der Gaukler“ von Hieronymus Bosch (1450–1516) illustriert kunstvoll und gedankenreich, worum es geht.

 

 

Um einen Tisch sind verschiedene Personen versammelt, offensichtlich alles Vertreter der besser situierten Gesellschaft, die der Verführung erlegen sind, die ein Gaukler, natürlich zu seinem Vorteil, mit recht banalen Hilfsmitteln auszulösen vermag. Einige verkörpern Gaffer und Voyeure, andere eher unbeteiligt wirkende zufällige Zuschauer. Auffallend ist eine in der Laientracht eines Ordens gekleidete Person, die offensichtlich, wie der Zwicker auf der Nase anzeigt, des Lesens mächtig ist, also ein Intellektueller. Er erfaßt die Situation und nutzt sie rasch zu seinen Gunsten: Er stiehlt den Geldbeutel der durch den Gaukler hypnotisierten Person vor ihm – er ist also das, was man im Mittelalter einen Beutelschneider nannte. Ich werde auf dieses Bild später in einem unerwarteten Zusammenhang zurückkommen.

Es gehört – wie das Bild von Bosch illustriert – nicht viel dazu, die Aufmerksamkeit von Menschen so zu manipulieren, dass sie das Offenkundige nicht mehr bemerken können und eigentlich augenfällige Fakten für sie unsichtbar sind. Dass dies auch im politischen Bereich mit bemerkenswerter und beunruhigender Wirksamkeit möglich ist, will ich anhand einiger Fakten aufzeigen, die unmittelbar mit dem genannten Selbsteinschätzungs-Verhaltens-Paradox zusammenhängen, also mit schweren Verletzungen moralischer Normen durch politische Gemeinschaften, denen wir angehören. Dabei möchte ich aber die übliche politische Perspektive gleichsam umkehren: Statt danach zu fragen, aus welchen vorgeblichen oder tatsächlichen Motiven Regierungen diese Verbrechen begangen haben, möchte ich den Blick auf die Bevölkerung, also auf uns selbst richten und nach den Gründen fragen, warum wir auf diese Verbrechen nicht mit einer angemessenen moralischen Empörung reagieren.

Da also die Fakten hier nur als Grundlage zur Behandlung dieser Fragen dienen, kann ich mich auf ein kurzes Konstatieren weniger Beispiele beschränken. Diese Beispiele sind so gewählt, daß sie die folgenden drei Kriterien erfüllen.

i) Sie beziehen sich auf Taten, für die „wir“ verantwortlich sind, also die politische Gemeinschaft, der wir angehören.

ii) Sie beziehen sich auf eindeutige Verletzungen moralischer Normen und Verbrechen, also auf Taten, auf die wir ohne Zögern, wenn unsere „Gegner“ sie begehen würden, mit Empörung und moralischer Verurteilung reagieren würden. iii) Sie sind unstreitig und gut dokumentiert, und auch die Massenmedien berichteten über sie (wenn auch fragmentiert und zumeist „geeignet“ re-kontextualisiert).

Unsichtbarmachen „kleiner Fakten“

Am einfachsten ist das moralische Unsichtbarmachen von Fakten in solchen Fällen, die wegen ihres Umfanges, wegen ihres geringen politischen Gewichts oder weil sie recht abstrakte Sachverhalte betreffen nur eine geringe „moralische Sichtbarkeit“ haben. Über derartige „kleine“ Fakten können die Massenmedien risikolos berichten; solche Fakten können im Wortsinne sichtbar und dennoch „moralisch unsichtbar“ sein.

Recht mühelos gelingt das moralische Unsichtbarmachen im Falle schwerer Verletzungen moralischer Normen, die durch abstrakte Strukturen verursacht sind. Anders als konkret sichtbare Gewalt unterläuft strukturelle Gewalt gleichsam unsere natürlichen moralischen Sensitivitäten. Hierzu gehören beispielsweise Wirkungen, die aus demokratisch nicht mehr kontrollierbaren Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals resultieren. Für die Wahrnehmung von Ursachen, die abstrakter Natur sind, ist der menschliche Geist nicht gut ausgestattet; wir erkennen sie zumeist selbst dann nicht, wenn sie gewaltige Folgen haben. Jean Ziegler, der ehem. UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, bemerkte 2012 in der Zeitung Junge Welt: „Der deutsche Faschismus brauchte sechs Kriegsjahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen – die neoliberale Wirtschaftsordnung schafft das locker in gut einem Jahr.“ Selbst dann, wenn sich die Ursache benennen läßt, fällt es uns bei abstrakten Strukturen schwer, auf Verbrechen mit moralischer Empörung zu reagieren. Beispiel: Die Weltbank, deren Aufgabe darin besteht, Finanzierungsinstrumente für langfristige Entwicklungs- und Aufbauprojekte im Bereich der Realwirtschaft bereitzustellen. Menschenrechtsorganisationen verurteilen seit Jahren die Menschenrechtsverletzungen durch die Weltbank. Gelegentlich findet dieses Thema auch den Weg in die Massenmedien. So schrieb die Süddeutsche Zeitung am 16. April 2015: „Bei von der Weltbank finanzierten Infrastrukturprojekten in Afrika werden Armutsviertel zum Teil ohne Vorwarnung niedergewalzt. Bewohner werden zwangsweise umgesiedelt oder obdachlos.“ Entsprechend die ZEIT vom gleichen Tag, unter dem Titel „Weltbank verletzt Menschenrechte weltweit“: Allein im vergangenen Jahrzehnt hätten „3,4 Millionen Menschen in mehr als 900 Weltbank-Projekten ihr Land oder einen Teil ihrer Lebensgrundlage verloren.“ Über diese folgenschweren Fakten kann man die Bevölkerung risikofrei unterrichten; solange der für ihr Verständnis notwendige Kontext weitgehend unsichtbar bleibt, werden derartige Verbrechen die Bevölkerung nicht sonderlich interessieren oder beunruhigen.

 

 

Anders verhält es sich bei konkreten Dingen, wie beispielsweise Folter. Bei Folter gibt es einen Täter. Wenn die Ursache eines Verbrechens nicht abstrakt ist, sondern konkrete Täter auszumachen sind, wird unser natürliches moralisches Empörungsvermögen, unsere moralische Sensitivität eher angesprochen. Doch mit Fragmentierung und einer geeigneten De-Kontextualisierung gelingt auch hier ein moralisches Unsichtbarmachen mühelos.

Beispiel Usbekistan: Usbekistan gilt als eine der schlimmsten Diktaturen der Welt, und das dortige Regime begeht systematisch schwerste Menschenrechtsverletzungen, wie Massenmorde, Folter oder Kinderarbeit. Da Deutschland dort jedoch einen Luftwaffenstützpunkt betreibt und somit strategische Interessen verfolgt, gehört die Duldung von Folter in Usbekistan zur deutschen Staatsraison. [10]

Weitere Beispiele für Fakten, die sich mühelos moralisch unsichtbar machen lassen, lassen sich leicht finden.

Unsichtbarmachen „großer Fakten“

Wie sieht nun die Möglichkeit des Unsichtbarmachens in Fällen aus, die sich eigentlich schon ihrer Größenordnung wegen nicht zum Verschwinden bringen lassen. Das erfordert einen beträchtlichen Aufwand, im politischen Bereich ebenso wie in der Zauberkunst. Doch bekanntlich hat David Copperfield 1983 vorgeführt, dass er sogar die Freiheitsstatue vor den Augen seiner Zuschauer verschwinden lassen kann. In der Zauberkunst erfordert dies einen aufwendigen und raffinierten technischen Apparat. Beim Meinungsmanagement ist der Apparat, durch den sich Fakten unsichtbar machen lassen, in gewissem Sinne zwar auch aufwendig – nämlich die Verfügbarkeit von Massenmedien -, doch die benötigten psychologischen Techniken sind nicht sonderlich raffiniert.

Nur ein Beispiel für derartige Fakten will ich anführen, nämlich die Anzahl der von Zivilisten, die in den von den USA seit dem 2. Weltkrieg durchgeführten „Interventionen“ getötet wurden. Da die USA als „engster Verbündeter Deutschlands“ gelten und da nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes diese „transatlantischen Beziehungen auf gemeinsamen Werten beruhen“ fallen die entsprechenden Fakten in einen politischen Bereich, für den „wir“ mitverantwortlich sind.

Zählt man nun die zivilen Opfer von US-Interventionen zusammen, so kommt man allein im Vietnam/Korea-Krieg auf 10 bis 15 Millionen sowie auf weitere 9 bis 14 Millionen durch kriegerische Akte der USA und ihrer Erfüllungsgehilfen (z.B. in Afghanistan, Angola, Kongo, Ost-Timor, Guatemala, Indonesien, Pakistan, Sudan). Insgesamt sind nach offiziellen Angaben oder Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen die USA seit dem 2. Weltkrieg durch Angriffe auf andere Länder für den Tod von 20 bis 30 Millionen Menschen verantwortlich.

 


Opfer des Massakers von My Lai (Foto: US-Army, public domain)

 

Begleitet wurden und werden diese Verbrechen durch einen Chor der Selbstbeglückwünschung und Selbstbeweihräucherungen westlicher Politiker, bereitwilliger Journalisten und Intellektueller, für die diese Taten nur Ausdruck sind für das wohltätige Bemühen der „world“s greatest force for peace and freedom, for democracy and security and prosperity“, so der damalige US-Präsident Clinton (am 28. April 1996).

Allein in den letzten 15 Jahren wurden vier Millionen Muslime durch „uns“, also durch die „westliche Wertegemeinschaft“, getötet, um so den Terrorismus in der Welt auszurotten. Dies steht in einer langen geschichtlichen Kontinuität der „westlichen Wertegemeinschaft“ – vom europäischen Kolonialismus und seiner „zivilisatorischen Mission“, über den Vietnamkrieg, in dem 1-2 Millionen Zivilisten durch ihre Ermordung vom Kommunismus, also von den Zumutungen einer falschen Lebensform, befreit wurden, bis hin zu „humanitären Interventionen“ und „zivilisatorischen Missionen für Demokratie und Menschenrechte“ der Gegenwart.

Es bedarf in der medialen Darstellung dieser Verbrechen einer beträchtlichen Fragmentierung und einer radikalen Re-Kontextualisierung als „Kampf für Demokratie und Menschenrechte“, damit Verbrechen dieser Größenordnung sowie ihre geschichtliche Kontinuität für die Öffentlichkeit nahezu unsichtbar werden.

 


B-52-Bomber (Foto: US Airforce, gemeinfrei)

 

Obwohl all dies ausführlich dokumentiert ist, ist es im öffentlichen Bewußtsein so gut wie nicht präsent.

„Wie viele Menschen muss man töten, bis man sich die Bezeichnung verdient hat, ein Massenmörder und Kriegsverbrecher zu sein?“, fragte Harold Pinter 2005 in seiner Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises. Er erinnerte an das „weitverzweigtes Lügengespinst, von dem wir uns nähren“ („a vast tapestry of lies, upon which we feed“). Damit die Macht der herrschenden Eliten „erhalten bleibt, ist es unabdingbar, dass die Menschen unwissend bleiben, dass sie in Unkenntnis der Wahrheit leben, sogar der Wahrheit ihres eigenen Lebens.“ Zu diesem Lügengespinst gehört es, dass die genannten Verbrechen im Bewußtsein der Bevölkerung unsichtbar sind; sie sind schlicht nicht passiert.

„Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand.“
Harold Pinter

Womit sich die beängstigende Frage stellt, wie sich eine moralische Apathie solchen Ausmaßes erreichen läßt. „ What has happened to our moral sensibility? Did we ever have any? What do these words mean?“

Die Antwort führt uns wieder zur Zauberkunst, denn eine solche moralische Apathie zu erzeugen ist ein „glänzender, sogar geistreicher, äußerst erfolgreicher Hypnoseakt“.

Das wichtigste Medium für eine solche kollektive Hypnose ist natürlich die Sprache. Wer die Sprache beherrscht, also die Begrifflichkeiten und Kategorien, in denen wir über gesellschaftlich-politische Phänomene nachdenken und sprechen, hat wenig Mühe, auch uns zu beherrschen. „Mit Hilfe der Sprache hält man das Denken in Schach.“ [11]

Auch „große“ Fakten lassen sich also durch einfache psychologische Techniken, wie sie in der Graphik noch einmal zusammengefaßt sind, moralisch unsichtbar machen. Diese Techniken sind kaum noch als bewußt eingesetzte Techniken erkennbar, sondern sind tief in der „normalen“ Funktionsweise der Massenmedien verankert und stellen geradezu deren Charakteristikum dar. Diese Manipulationstechniken müssen also nicht erst durch eine Art zentraler Lenkung implementiert werden, sondern sind im wesentlich lediglich Ausdruck der Volksweisheit „Wes Brot ich eß, des Lied ich sing“. Kennt man das für die „Unterrichtung“ der Bevölkerung gewünschte Lied, so ergeben sich diese Techniken nahezu von selbst.

Notwendigkeit eines „Empörungsmanagments“

Nun kann es aus Sicht der herrschenden Eliten Situationen geben, die für die Stabilität eines Systems besonders gefährlich sind, weil sie das Potential einer Kettenreaktion bergen. Typischerweise werden derartige Situationen durch Vorkommnisse ausgelöst, die das moralische Empfinden der Bevölkerung so heftig ansprechen, dass diese mit Empörung reagiert. Derartige Situationen gilt es rasch und wirksam zu entschärfen. Die auf eine längerfristige Steuerung von Meinungen zielenden Techniken reichen hierfür oftmals nicht aus, so dass besondere Techniken erforderlich sind, die ausgelöste Empörung zu kontrollieren und zu steuern. Ein typisches Beispiel für eine Situation, in der „durch ein unglückliches Mißgeschick“ das moralische Empfinden der Bevölkerung so heftig angesprochen wurde, dass diese mit Empörung reagierte, war die Veröffentlichung von Folterbildern aus dem von den USA betriebenen irakischen Gefängnis in Abu Ghraib. [12] „Stabilitätsgefährdende“ Empörungsreaktionen der eigenen Bevölkerung – wie im Falle von Folter oder Massenüberwachung –, sind aus Sicht der Eliten rasch einzudämmen oder auf geeignete Scheinziele umzulenken.

 

 

Doch auch Empörungsreaktionen der Bevölkerung eines „befreundeten“ Landes können für die „Stabilität“ – womit in der Regel die eigenen hegemonialen Interessen gemeint sind – gefährlich sein und müssen folglich in geeigneter Weise kontrolliert werden. Dies gilt besonders dann, wenn sie sich in kollektiv organisierter Weise manifestieren. In diesem Fall spricht man bei den nötigen Kontrolltechniken von „Aufstandsbekämpfung“. Handelt es sich hingegen um Empörungsreaktionen der Bevölkerung von nicht pro-westlich eingestellten Staaten, in denen „wir“ einen Systemwechsel anstreben, so sind Aufstände natürlich nicht zu bekämpfen, sondern durch Techniken eines Empörungsmanagements anzufachen und auf geeignete Zielobjekte zu richten. In diesen Fällen sprechen wir von „Farbrevolutionen“, die es dann in geeigneter Weise zur „Förderung von Demokratie und Menschenrechten“ zu lenken gilt.

Aufstandsbekämpfung

Methoden der Aufstandsbekämpfung („counterinsurgency“), als militärische Einsätze unterhalb der Kriegsschwelle („low intensity warfare“), bilden heute den bedeutendsten und umfassendsten Bereich von Interventionsmethoden und übertreffen die klassische Kriegführung weit an Bedeutung.

Sie umfassen all die Methoden, die auch nach offizieller Definition von Terrorismus als Terrorismus anzusehen sind: nämlich unrechtmäßige Gewaltakte, um durch Angsterzeugung politische oder ideologische Ziele zu erreichen. [13] Im Falle der „Aufstandsbekämpfung“ nennt sich diese Form des Terrorismus jedoch Anti-Terrorismus („counterterrorismus“). Anti-Terrorismus und Terrorismus unterscheiden sich also nur dadurch, ob entsprechende Gewaltakte von „uns“ oder durch unsere Feinde begangen werden. Der Begriff „Terrorismus“ ist also ein zutiefst ideologisch getränkter Begriff. Dies gilt gleichermaßen für den Begriff „Aufstandsbekämpfung“. Auch hier ist es wichtig, seine stillschweigenden Prämissen aufzudecken: Das Wort „Aufständische“ impliziert stets die Perspektive der jeweiligen herrschenden Ordnung. „Aufständische“ werden diejenigen genannt, die die Stabilität einer von „uns“ gewünschten Ordnung bedrohen, als „Freiheitskämpfer“ hingegen werden diejenigen bezeichnet, die die Stabilität einer von „uns“ nicht gewünschten Ordnung bedrohen.

Die Methoden der Aufstandsbekämpfung umfassen ein breites Spektrum von Methoden, zu deren Verfeinerung auch der universitäre Bereich beizutragen sucht. Sie reichen von „information operations“, d.h. Methoden zur Kontrolle der öffentliche Meinung, über ,population-control measures“ bis hin zu ,shock and awe“-Taktiken.

Die blutigen Formen der Aufstandsbekämpfung werden von speziellen Einheiten übernommen, etwa CIA oder den zahlreichen Einheiten des Joint Special Operation Command. In der New York Times erschien am 7. Juni 2015 unter der Überschrift ,A Secret History of Quiet Killings and Blurred Lines“ ein ausführlicher Bericht über diese Einheiten der „Aufstandsbekämpfung“, die als „global manhunting machine“ bezeichnet werden. Bereits das wenige, was über sie ans Licht gekommen ist, zeigt eine lange Bilanz von ,killing fests“, von „Schlachtfesten“ an Zivilisten. Diese Einheiten verfügen, laut Jeremy Scahill, über einen Jahres­etat von 8 Milliarden Dollar.

 

 

Der Bericht der NYT hat zwar einige kurzzeitige Empörungsreaktionen hervorgerufen, doch zugleich die Bürger in der Überzeugung bestärkt, dass in „unserer Demokratie“ letztlich alles ans Licht komme und somit kein Grund zu einer ernsthaften Beunruhigung bestehe. Zudem bettet der Bericht die Darstellung dieser Verbrechen wieder in den üblichen Kontex „bedauerlicher Einzelfälle“ ein und verdeckt durch eine geschichtliche Fragmentierung die lange Tradition derartiger Einheiten.

Die blutigen Methoden der Aufstandsbekämpfung wurden vor allem im Vietnam-Krieg erprobt, etwa durch die Tiger Force. Dennoch ist die Kontinuität dieser Methoden für das öffentliche Bewußtsein praktisch unsichtbar. [14]

Aufstandsentfachung

Eine gänzlich andere Strategie wird hingegen verfolgt, wenn sich Aufstände gegen eine der „westlichen Wertegemeinschaft“ mißliebige Regierung richten. Dann sprechen wir bei Aufständen, die versprechen, einen geeigneten Systemwechsel herbeizuführen, davon, dass diese den Freiheitswillen der Bevölkerung widerspiegeln und daher im Sinne einer „democracy promotion“ nach Kräften zu fördern sind.

Ein Systemwechsel auf einem Wege zu erreichen, der keiner militärischen Gewalt bedarf und zudem aus der Mitte des Volkes zu kommen scheint – man spricht oft von „Farbrevolutionen“ – hat für die USA gegenüber den in den vorhergehenden Jahrzehnten dutzendfach von der CIA durchgeführten Militärputschen und Staatsstreichen eine Reihe von Vorteilen. Verdeckt inszenierte Systemwechsel sind nicht nur kostengünstiger, sondern haben auch in der westlichen Öffentlichkeit und im internationalen Staatenverbund eine vielfach höhere Akzeptanz als Putsche. Ein Regime, das vordergründig auf gewaltfreiem Wege und als vorgeblicher Ausdruck des Volkswillens an die Macht gekommen ist, gilt damit bereits als demokratisch legitimiert.

Für die Unterstützung verdeckt inszenierter Systemwechsel gibt es finanzstarke Netzwerke privater „gemeinnütziger“ Organisationen, die sich der Förderung von „Demokratie und Menschenrechten“ in Ländern widmen, die sich dem westlichen Werteverständnis gegenüber nicht hinreichend aufgeschlossen zeigen. Eine der einflußreichsten dieser Organisationen ist das National Endowment for Democracy (NED) sowie die durch das NED geförderten privaten NGOs wie Freedom House und das Open Society Institute von George Soros. Dankenswerterweise machte NEDs Expräsident Allen Weinstein im Jahr 1991 die Kontinuität in den Aktivitäten dieser Organisationen und den durch die CIA organisierten Putschen deutlich: “A lot of what we do today was done covertly 25 years ago by the CIA.” Und in der Tat kann das NED auf eine lange Liste gewaltfrei etablierter autoritärer, doch US-freundlich gesinnter Regime, vor allem in Mittel- und Südamerika, verweisen. Gegenwärtig liegt sein Schwerpunkt auf einer entsprechenden „democracy promotion“ in Osteuropa.

 

 

Zudem werden all diese Aktivitäten zur Förderung hegemonialer Interessen durch global agierende und hochgradig spezialisierte Propagandafirmen begleitet, die sich selbst PR-Agenturen nennen. Alle US-Intervention der vergangenen Jahrzehnte sind durch derartige Firmen propagandistisch vorbereitet und begleitet worden. Diese Firmen sind trotz ihres großen Einflusses auf die Massenmedien, für die Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar – beispielsweise Hill & Knowlton Strategies – die eine gewisse Berühmtheit durch die „Brutkastenlüge“ von 1990 erlangten –, Burson-Marsteller oder Rendon Group. Sie haben global mit beträchtlichem Erfolg gezeigt, dass sie der Öffentlichkeit nicht nur „Kriege verkaufen“ können, sondern auch die politisch gewünschte „Realität“.

Dieser politische Kontext einer Kontinuität über viele Jahrzehnte ist für die Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar, da die Massenmedien diese Kontinuität so in Einzelfälle fragmentieren, dass jeder einzelne Fall so erscheint, als ginge es bei einer militärischen Intervention vor allem und die Förderung von Demokratie und Menschenrechten und als sei es bei Aufständen in Osteuropa oder in überwiegend islamischen Ländern einzig und allein das Volk, das sich hier Ausdruck verschafft, um genau den von „uns“ erstrebten Systemwechsel zu erreichen.

 

 

Die Kunst der Täuschung

Nicht nur die öffentliche Meinung, auch das Empörungspotential der Öffentlichkeit ist ein viel zu kostbares Gut, als das man es der Bevölkerung oder dem Zufall überlassen könnte. Da wir aber von Natur aus über moralische Sensitivitäten verfügen, hat die Kontrolle unseres moralischen Empörungspotentials zur Voraussetzung, dass man in der Bevölkerung ein hinreichendes Maß an politischer Apathie erzeugt. Zudem müssen Techniken verfügbar sein, mit denen sich alle Fakten moralisch unsichtbar machen lassen, die diese Apathie gefährden könnten. Hierzu gehören insbesondere schwerwiegende und systematische Menschenrechtsverletzungen, weil diese geeignet sind, unsere natürlichen moralischen Sensitivitäten anzusprechen.

Realpolitik bedeutet gerade, Verweise auf Demokratie, Menschenrechte oder moralische Normen allgemein nur als rhetorische Hülsen anzusehen, mit denen sich die Bevölkerung wirksam steuern läßt; dazu bedarf es geeigneter Techniken, durch die man die Bevölkerung über die Diskrepanz von politischer Rhetorik und der Realität täuschen kann und so die Stabilität der jeweiligen politischen Ordnung gewährleisten kann. Eine solche Täuschung wiederum gelingt um so wirkungsvoller, je besser man dabei den Gesetzmäßigkeiten unseres Geistes Rechnung trägt.

Die Psychologie hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Fülle neuer und vertiefter Einsichten in Gesetzmäßigkeiten der Funktionsweise unseres Geistes gewonnen. Viele dieser Einsichten lassen sich für eine Verfeinerung von Techniken der Propaganda und Täuschung nutzbar machen.

Dabei ist es, angesichts historischer Erfahrungen, wenig überraschend, dass sich genügend Psychologen finden, die sich bereitwillig in den Dienst eines solchen Unterfangens stellen, was ihnen natürlich die Wertschätzung „relevanter“ Kreise einträgt. Nur ein Beispiel: Die American Psychological Association (APA), die größte Standesorganisation von Psychologen der Welt, organisierte 2003 zusammen mit der CIA einen Science of Deception-Workshop. Ziel dieses Workshops war es, neueste psychologische Befunde zu diskutieren und für die Praxis aufzubereiten, auf deren Basis man „zum Zwecke der nationalen Sicherheit“ die Bevölkerung am besten täuschen könne. [15]

Auch andere Geheimdienste sind an solchen Befunden der Psychologie interessiert, die Möglichkeiten eröffnen, verfeinerte Techniken der Täuschung und Meinungsmanipulation zu entwickeln. Durch die Snowden-Dokumente wurde ein Manual des britischen Nachrichtendienstes Government Communications Headquarters (GCHQ) bekannt (The Intercept, 25.2.2014), das sich genau den Möglichkeiten widmet, wie sich auf der Basis dessen, was wir gegenwärtig über Prinzipien unseres Geistes wissen, die Bevölkerung täuschen läßt und Fakten unsichtbar machen lassen. Es trägt den Titel ,The Art of Deception“ und zeigt als Titelbild passenderweise genau das eingangs abgebildete Gaukler-Bild von Hie­ronymus Bosch.

 


„Training for a new generation of online covert operations“

 

In diesem Manual sind akribisch die Funktionsbereiche unseres Geistes sowie spezifische Eigenschaften dieser Funktionsbereiche aufgeführt, die sich für Zwecke der Täuschung nutzen lassen.

Können wir uns gegen eine systematische Manipulation unserer Einstellungen, Überzeugungen und Meinungen schützen?

Bei der Entwicklung verfeinerter Manipulationstechniken wird gezielt nach solchen Designaspekten und funktionalen Gesetzmäßigkeiten unseres Geistes gesucht, die sich gleichsam als „psychische Schwachstellen“ für Manipulationszwecke nutzen lassen. Der wichtigste Aspekt dabei ist, dass uns die für solche Zwecke genutzten Funktionen unseres Geistes – aus prinzipiellen Gründen unseres mentalen Designs – nicht bewußt zugänglich sind. Nutzt man sie für Manipulationszwecke, so erliegen wir nahezu automatisch, unwillentlich und unbewußt solchen Manipulationen, ohne auch nur zu bemerken, dass wir ihnen erliegen. Selbst wenn wir wissen, wie diese Manipulationstechniken funktionieren und welche Eigenschaften unseres Geistes sie sich zunutze machen, sind wir nicht gegen sie gefeit. Die dabei aktivierten internen Prozesse laufen unbewußt ab und unterliegen nicht unserer willentlichen Kontrolle. Wenn sie erst einmal aktiviert sind, ist es aussichtlos, ihnen entgehen zu wollen.

In dieser Hinsicht verhalten sie sich im Prinzip nicht anders als die Prozesse, die beispielsweise der Wahrnehmung zugrunde liegen. Auch bei der Wahrnehmung können wir in der Regel sog. Wahrnehmungstäuschungen nicht willentlich korrigieren. Ein Beispiel ist die Bewegungstäuschung, der man erliegt, wenn man im Bahnhof aus dem Fenster eines stehenden Zuges auf den gerade abfahrenden Zug des Nachbargleises blickt und dabei den Eindruck hat, dass sich der eigene Zug in Bewegung setzt. Derartige Effekte laufen unbewußt und automatisch ab und verschwinden auch dann nicht, wenn man sie gut kennt. Wenn wir ihnen also entgehen wollen, müssen wir diejenigen Situationen meiden, durch die sie ausgelöst werden.

Gleiches gilt auch für spezifische Eigenschaften mentaler Prozesse, die man für Manipulationszwecke auszunutzen sucht. Auch sie laufen, wenn sie erst einmal durch bestimmte Situationen ausgelöst worden sind, weitestgehend unbewußt und nicht kognitiv kontrollierbar ab. Wir können also den psychologischen Effekten, die sich Manipulationstechniken gezielt zunutze machen, nur dadurch entgehen, dass wir die auslösende Situation so gut es geht vermeiden. Nur wenn wir erkennen, dass wir uns in einem Manipulationskontext befinden, und dann die Medien, über die die gewünschten Manipulationen vermittelt werden, aktiv vermeiden, haben wir in derartigen Situationen eine Chance, uns einen Rest von Autonomie zu bewahren.

Wenn wir uns jedoch dem Manipulationskontext freiwillig aussetzen und zudem der Überzeugung sind, dass wir im Großen und Ganzen schon in der Lage seien, in den „Nachrichten“ der privaten oder öffentlich-rechtlichen Massenmedien Wahrheit von Täuschung zu unterscheiden, erfüllen wir in optimaler Weise alle Voraussetzungen für den Erfolg entsprechender Manipulationstechniken.

Zwar ist der menschliche Geist so beschaffen, dass es viele Möglichkeiten zu seiner Manipulation und somit für eine „Verzweckung“ von Menschen für die Machtbedürfnisse anderer gibt. Jedoch verfügen wir von Natur aus über ein reiches Repertoire an Möglichkeiten unseres Verstandes, um Manipulationskontexte erkennen und somit aktiv vermeiden zu können. Wir verfügen gleichsam über ein natürliches Immunsystem gegen Manipulation. Wir müssen uns nur entschließen, es zu nutzen.

Das Motto der Aufklärung war ja sapere aude, wage es zu erkennen, wage es zu bemerken – oder in Kants Worten, wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Nur wenn wir uns entschließen, uns unseres Verstandes zu bedienen, nur wenn wir unsere induzierte moralische Apathie überwinden, nur wenn wir nicht mehr bereit sind, uns mit der Illusion der Informiertheit, der Illusion der Demokratie, der Illusion der Freiheit zufrieden zu geben, nur dann haben wir eine Chance, diesen Manipulationstechniken zu entgehen. Das ist keine leichte Aufgabe, aber eine andere Wahl haben wir nicht. Die Entscheidung liegt bei uns.

Quellen:

Anmerkungen:

[1] Die Demokratie im antiken Athen war eine sehr weitgehende Herrschaft des Volkes; schon deswegen hat diese Form der Demokratie für die gegenwärtigen Eliten keineswegs den Vorbildcharakter, der ihr in der politischen Rhetorik oft zugeschrieben wird. „In Athens demokratia übte das Volk die volle Gesetzgebungs-, Regierungs-, Kontroll- und Gerichtsgewalt aus. Damit war die Demokratie in Athen ein Regime direkter, unmittelbarer Herrschaft des Volkes, das auf umfassender Beteiligung aller Bürger beruhte und keine Unterschiede zwischen Arm und Reich kannte. … Der athenische Demos besaß also eine beispiellose Machtkonzentration. Gesetzgebende, richtende und ausführende Gewalt gingen vom Volk aus und verblieben auch bei ihm. Regieren und Regiertwerden waren eins – oder gingen, wie Aristoteles formulierte, „wechselweise“ vonstatten.“ (Vorländer, 2004, S.10–11)
[2] Martin Gilens und Benjamin Page (2014) stellen fest: „The preferences of the average American appear to have only a miniscule, near-zero, statistically non-significant impact upon public policy.” Wenn die Mehrheit der Bürger nicht mit den ökonomischen Eliten oder mit organisierten Interessengruppen einverstanden ist, erweist sie sich in der Regel als Verlierer (“When a majority of citizens disagrees with economic elites and/or with organized interests, they generally lose.“). Selbst wenn eine ziemlich große Mehrheit amerikanischer Bürger eine Politikänderung wünscht, bekommt sie sie im allgemeinen nicht („[…] even when fairly large majorities of Americans favor policy change, they generally do not get it.“). Gilens und Page schließen aus ihren Befunden: “It is no longer possible … to believe in the original dogma of democracy.” Soviel zur Diskrepanz von politischer Rhetorik und Realität.
[3] Wallstreet Journal vom 28. Februar 2013: „That is democracy in today“s euro zone. The French, Spanish, Irish, Dutch, Portuguese, Greeks, Slovenians, Slovakians and Cypriots have to varying degrees voted against the currency bloc“s economic model since the crisis began three years ago. Yet economic policies have changed little in response to one electoral defeat after another.”
[4] Die Effektivität dieser Propaganda-Techniken wies Bernays selbst in zahlreichen Kampagnen im wirtschaftlichen und politischen Bereich nach. So unterstützte er 1954 propagandistisch sehr erfolgreich eine CIA-Operation (in deren Folge über 250.000 Zivilisten umkamen), mit der Washington den Sturz der ersten demokratischen Regierung in Guatemala betrieb (da Guatemala durch seine Agarreform und sein weitgefächertes Sozialprogramm „eine zunehmende Bedrohung“ für die „Stabilität“ Mittelamerikas geworden sei). Bernays Buch Propaganda ist bis heute ein Klassiker im politischen Geschäft und im Marketing. Es wurde auch von Goebbels geschätzt, weshalb Bernays nach dem Krieg den Begriff „Propaganda“ als belastet ansah und nun dafür den Begriff „Public Relations“ verwendete.
[5] Versuche, diese „wahre Herrschermacht unseres Landes“ sichtbarer zu machen, werden dann durch eines der erfolgreichsten Instrumente politischer Propaganda diffamiert, dem von der CIA zur Blüte gebrachten Konzept der „Verschwörungstheorie“: “The CIA’s campaign to popularize the term „conspiracy theory’ and make conspiracy belief a target of ridicule and hostility must be credited, unfortunately, with being one of the most successful propaganda initiatives of all time.” deHaven-Smith (2014, S. 25). Der Vorwurf der „Verschwörungstheorie“ stellt ein ausgezeichnetes Mittel dar, durch das sich das Wirken von Verschwörungspraktikern im Dunkeln halten lässt.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Propaganda darf, um wirksam zu sein, nicht als Propaganda erkennbar sein. Auch dies wurde vielfach explizit zum Ausdruck gebracht, so von Bernays, von Goebbels oder von US-Präsident Eisenhower. Das ist mittlerweile in einer so umfassenden und nahezu vollkommenen Weise gelungen, dass Alex Carey – in seinem Buch Taking the Risk out of Democracy – feststellen kann: “[…] that we are free from propaganda is one of the most significant propaganda achievements of the twentieth century.”
[6] “Exposure to this flood of information may serve to  narcotize rather than to energize the average reader … His social conscience remains spotlessly clean.  He is concerned. He is informed. And he has all sorts of ideas as to what should be done. But, after he has gotten through his dinner and after he has listened to his favored radio programs and after he has read his second newspaper of the day, it is really time for bed.” Paul F. Lazarsfeld & Robert K. Merton (1948). Mass communication, popular taste, and organized social action. In: L. Bryson (ed.), The Communication of Ideas. New York: Harper, S. 95–118.
[7] Ein beliebig ausgewähltes Beispiel für Sedierungseffekte: Ein Bild, das von Reuters am 8. Juni 2015 zum „picture of the day“ gekürt wurde und groß in deutschen Massenmedien, etwa auf der ersten Seite der Süddeutschen plaziert war, zeigt anläßlich des G7-Gipfels auf Schloß Elmau Angela Merkel mit US-Präsident Obama vor der romantischen Bergkulisse von Schloß Elmau – beide in wohldrapierter Entspanntheit – Obama lässig mit dem Rücken zur Kamera, den idyllischen Alpenblick genießend, Angela Merkel mit ausladender Gestik suggerierend, dass sie das große Ganze fest im Griff hat. Der politische Informationswert des Bildes ist Null, der affektive, sedierende Effekt jedoch könnte besser nicht sein. Das Bild soll uns beruhigen und uns suggerieren: Alles ist in besten Händen, „it“s really time for bed“.
[8] Die systematische Angsterzeugung durch die Massenmedien stellt dabei keine journalistische Entgleisung oder ein bloßes Mittel zur Erhöhung von Auflagenzahlen dar, sondern ist vielmehr ein wesentliches Element der affektiven Steuerung der Bevölkerung durch die jeweils herrschenden Eliten. Lasswell hat dies in seinem Standardwerk von 1927, Propaganda Technique in the World War, auf den Punkt gebracht: Es darf keine Zweifel darüber geben, auf wen sich der Haß der Öffentlichkeit zu richten hat. (“There must be no ambiguity about who the public is to hate.”) Sollte sich der Haß nicht leicht entfachen lassen, so sei es hilfreich, ihn durch Betonung von Greueltaten zu schüren. Besonders wirksam läßt sich Haß erzeugen, wenn man Personen als Ziel deklariert. Dabei sind vor allem Hitlervergleiche ein beliebtes und flexibel einsetzbares Mittel. Den Haß der Bevölkerung auf abstraktere Zielobjekte, wie Kommunismus oder „Islamismus“, zu richten, erfordert hingegen höhere und kontinuierlichere Propagandaanstrengungen – und kann daher kaum ohne Einbezug des Erziehungs- und Ausbildungswesens erfolgen. Dafür hat dies jedoch den Vorteil, dass die dadurch erreichte Angsterzeugung zeitlich sehr viel stabiler ist.
[9] Eine entsprechende Disposition in der menschlichen Urteilsbildung läßt sich auch ohne wissenschaftliche Untermauerung aus Alltagsbeobachtungen erkennen. So stellte auch der Leiter der für Pressearbeit, Film, Rundfunk und „Volksbildung“ zuständigen Reichspropagandastelle der NSDAP, Joseph Goebbels, fest, dass sich jede Lüge durch bloße Wiederholung zur Wahrheit machen lasse.
[10] Usbekistan gilt – wie auch der Tagesspiegel vom 15.1.15 berichtet – als „eine der schlimmsten Diktaturen der Welt“. Folter ist im usbekischen Rechtswesen fest verankert, wie Jahr für Jahr Menschenrechtsorganisationen feststellen. Zudem gibt es hier in großem Ausmaß staatlich organisierte Zwangs- und Kinderarbeit bei der Baumwollernte (Usbekistan ist einer der größten Baumwollexporteure weltweit). Im Jahr 2005 verübte das Regime Karimov ein Massaker an protestierenden Bürgern. Wie Amnesty International im Juni 2015 schrieb: „Vor zehn Jahren kam es in der usbekischen Großstadt Andischan zu einem spontanen Aufstand gegen das autoritäre Regime des Landes. Das Militär erschoss Hunderte überwiegend unbewaffneter Demonstranten: Kinder, Frauen, Männer. Bis heute gab es keine unabhängige Untersuchung des Massakers.“ Eigentlich ein klarer Fall für Sanktionen. Und tatsächlich hat die Europäische Union im Oktober 2005 Sanktionen gegen Usbekistan verhängt und zudem gegen den damaligen Innenminister Sokir Almatow, einen der Hauptverantwortlichen für das Massaker von Andischan, ein Einreiseverbot in die EU und somit auch nach Deutschland verhängt. Dennoch ließ Deutschland Almatov unbehelligt zu einer medizinischen Behandlung in Hannover einreisen. Usbekistan ist für Deutschland militärisch wichtig, weil die Bundeswehr einen für den Krieg in Afghanistan wichtigen Luftwaffenstützpunkt in Usbekistan betreibt. Daher bemühte sich Deutschland um eine Aufhebung der EU-Sanktionen. Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der den Diktator als erster westlicher Außenminister nach dem Massaker besuchte, hielt – zumindest in diesem Fall – nichts von Sanktionen. Sanktionen seien kein Selbstzweck und würden „nichts weiter bewirkten, als Taschkent vor den Kopf zu stoßen“ (ZEIT, 13.5.15). Steinmeier hat ja wiederholt gezeigt, dass er über die für einen „Realpolitiker“ nötige moralische Elastizität in der Beurteilung von Menschenrechtsverletzungen verfügt – sofern diese von der „richtigen“ Seite verübt werden.
Über all dies wurde in den deutschen Medien berichtet, trotzdem bleiben diese Fakten kognitiv und moralisch unsichtbar: kognitiv, weil keine Beziehung zu Fällen hergestellt wird, in denen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen Sanktionen für unabdingbar gehalten werden; moralisch, weil die Berichte über systematische Folter und Massaker an Zivilisten in den Medien so eingebettet waren, dass sie als etwas angesehen wurden, das politisch kein besonderes Gewicht hat und zudem nicht in unserem Verantwortungsbereich liegt. Kurz: Da Deutschland in diesem Fall strategische Interessen verfolgt, gehört die Duldung von Folter in Usbekistan zur deutschen Staatsraison.
[11] Offenkundig war es nicht sonderlich schwierig, auch Pinters Nobelpreisrede für die Öffentlichkeit moralisch unsichtbar zu machen. Über ihren Inhalt wurde, wenig überraschend, in den Massenmedien so gut wie nicht berichtet, und wenn, dann in abfälliger Weise. Die FAZ (8.12.2005), um nur ein Beispiel zu nennen, warf Pinter „größte Einseitigkeit“ vor. Obgleich es nichts Einseitigeres gibt als die Folterung und Ermordung eines Menschen, wird von den Massenmedien und bereitwilligen Intellektuellen gerne vorgegeben, die Einseitigkeit läge in der Benennung, nicht jedoch in der Verübung solcher Verbrechen.
[12] Dieses Beispiel ist auch lehrreich für die Rolle der Massenmedien in einer solchen Situation.
Nachdem Amnesty International ausführlich in Berichten vom 23. Juli 2003 und 18. März 2004 über US-Folterungen von Gefangenen durch Elektroschocks, Schlafentzug, Schläge oder Fesselungen der Geschlechtsteile, u.ä. hingewiesen hatte, entschieden sich die deutschen Leitmedien dafür, über diese Verbrechen erst gar nicht zu berichten und sie somit für die Bevölkerung unsichtbar zu lassen. Obwohl ARD und ZDF im eigenen Internetangebot darüber informierten, verschwieg man diese Verbrechen in „Tagesschau“, „Tagesthemen“ und „heute“. Nachdem dann am 28. April die ersten Fotos der Folterungen an die Öffentlichkeit gelangten, ließ sich das mediale Verschweigen nicht länger aufrechterhalten. Am 30. April 2004 berichtete die FAZ unter dem Titel „Ohne Bilder kein Skandal“ darüber, wie systematisch diese Verbrechen in deutschen Leitmedien verschwiegen wurden und welche Gründe prominente Leitmedien im nachhinein für die Nichtberichterstattung vor dem 28. April 2004 geltend machten: So nannte der SPIEGEL – trotz der ausführlichen Beweise in den Amnesty-Berichten – „fehlende Beweise“ als Grund, die Süddeutsche Zeitung war der Überzeugung, dass die Amnesty-Berichte über Elektroschocks, Schläge oder Fesselungen der Geschlechtsteile „wenig konkrete Informationen“ seien, und für den STERN hatten sich die Inhalte der Amnesty-Berichte durch „Dementis von US-Stellen“ als irrelevant erledigt. Da nun aber durch die Veröffentlichung der Bilder die Fakten nicht mehr zu leugnen waren, trat man die Flucht nach vorne an und beeilte sich gegenüber der Öffentlichkeit, die systematische Nichtberichterstattung als einen bedauerlichen journalistischen Ausnahmefall darzustellen. So sprach die FAZ von einer „Chronik eines kollektiven Versagens“ und erklärt damit die tatsächliche Regel der Funktionsweise der Massenmedien zur scheinbaren Ausnahme.
[13] Beispielsweise im U.S. Army Field Manual von 2001: „calculated use of unlawful violence or threat of unlawful violence to inculcate fear. It is intended to coerce or intimidate governments or societies … [to attain] political, religious, or ideological goals.“
[14] Im Rahmen der Operation Phoenix der CIA wurden in Vietnam zwischen 1965 und 1972 mehr als 40.000 Zivilisten – überwiegend Frauen und Kinder – ermordet. Darüber wurde auch in deutschen Leitmedien, etwa im SPIEGEL vom 16. April 2004, berichtet. Bernd Greiner schreibt in seinem Buch Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam: „Sieben Monate lang zog die Tiger Force eine Blutspur durch Qang Tin und das Song Ve-Tal. Sie erschossen ohne jeden Anlaß Bauern im Feld und mordeten Menschen, die ihnen zufällig über den Weg liefen, folterten Gefangene und führten sie einzeln oder in Gruppen zur Exekution, fielen spätabends oder am frühen Morgen in Dörfer ein und streckten mit Maschinengewehren alle nieder, derer sie habhaft werden konnten – Bauern, die sich zum Essen versammelt hatten oder schliefen, Kinder, die im Freien spielten, Alte beim Spaziergang. […] Sie stahlen und brandschatzten, prügelten ihre Opfer zu Tode oder vergewaltigten sie bis zur Bewußtlosigkeit, sie erschossen Bewohner, die kurz zuvor abgeworfene Flugblätter in Händen hielten und der Aufforderung zur Evakuierung nachkommen wollten, sie veranstalteten „Zielschießen“ auf Personen, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielten. Sie verschonten weder Verwundete noch Kranke, schossen aus der Distanz mit der M-16 wie aus nächster Nähe mit Handfeuerwaffen.“ Eine Bekämpfung von Menschen, die sich unseren Idealen nicht beugen wollen, hat eben ihren Preis. Niemand von diesen Einheiten ist für diese Verbrechen juristisch zur Rechenschaft gezogen worden.
Die geschichtliche Kontinuität der damaligen und der heutigen Formen der „Aufstandsbekämpfung“ bleibt bei Darstellungen in den Massenmedien, wie bei dem NYT-Bericht, infolge der Fragmentierung und historischen De-Kontextualisierung für die Öffentlichkeit unsichtbar.
[15] Mitglieder der APA waren auch an der Entwicklung und Durchführung der in Guantánamo praktizierten Foltertechniken beteiligt, und die APA bemühte sich öffentlich um eine Rechtfertigung dieser Techniken. Überhaupt hat die Zusammenarbeit von APA und CIA eine lange Tradition.

 

Literaturhinweise:

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